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Jetzt NABU-Mitglied werden!Wie das Private zum Politischen wurde
NABU-Gutachten zeigt Widersprüche Lina Hähnles
Lina Hähnle (1851-1941) war eine der innovativsten Figuren des Naturschutzes. Sie öffnete den Bund für Vogelschutz (BfV) ihrer Biografin Anna-Katharina Wöbse zufolge für alle Schichten, Generationen, Geschlechter und Religionen – also auch für jüdische Mitglieder. Ihre Fachkenntnis, ihre Verbindlichkeit sowie ihr strategisches Denken waren in ihrer Zeit außergewöhnlich.
Nach 1933 allerdings arrangierte sie sich und den BfV Stück für Stück mit dem NS-Regime. „Spricht man über Lina Hähnle, spricht man über Widersprüche“, resümiert daher Wöbse. Neue Quellen aus der NS-Zeit, darunter die Krankenakte ihres 1940 als Euthanasie-Opfer vom NS-Regime ermordeten Sohnes Reinhold, erlauben es, die Widersprüche zu großen Teilen plausibel aufzulösen: Nach 1933 wurde für Hähnle das Private stärker denn je politisch.
Die Privatperson und die Funktionsträgerin
Lina Hähnle war Ehefrau eines erfolgreichen Filzfabrikanten und linksliberalen Politikers sowie Mutter von sechs Kindern. Gemeinsam mit ihrem Mann betrieb sie in Stuttgart einen politischen Salon, in dem führende schwäbische Linksliberale verkehrten.
Ihr Sohn Eugen, wie ihr Mann Abgeordneter, sprach sich im Reichstag energisch gegen Antisemitismus aus. Nach dem Tod ihres Mannes 1913 hielt die emanzipierte Matriarchin die Fäden in der Hand.
Nach 1933 trat sie nie in die NSDAP ein. Für ihre Anpassungsbereitschaft an das NS-Regime steht aber der Beitritt zur NS-Frauenschaft. Ihr Mann Hans litt an altersbedingten Depressionen, ihr Sohn Reinhold seit den 1920er-Jahren an Schizophrenie. Spätestens seit 1936 stand die Familie deshalb nachweislich im rassenhygienischen Fokus des NS-Regimes.
Hähnle richtete den BfV nach 1899 überparteilich und staatstragend aus. 1933 erfolgte kein Bruch im staatstragenden Verständnis. Während sich der amtliche Naturschutz sehr schnell selbst gleichschaltete, verlief dieser Prozess im BfV ungewöhnlich. Im November 1933 verankerte der BfV zwar das Führerprinzip in der Satzung. Dem klassischen NS-Ideal eines – männlichen – Führers entsprach die bereits 82-jährige Greisin aber in keiner Weise. Erst im November 1937, also zwei Jahre nach der Verkündung der Nürnberger Rassengesetze, nahm man den sogenannten Arierparagrafen auf. Die Mitgliedschaft blieb nun „arischen“ Menschen vorbehalten.
1938 erklärte das zuständige Reichsforstamt den mittlerweile zum Reichsbund für Vogelschutz umbenannten Verband zum alleinigen Vogelschutzverein. Dieser bestand aber mehr auf dem Papier als in der Realität. Im Zuge dessen musste Hähnle den Vorsitz niederlegen. Ihr folgte das NSDAP-Parteimitglied Reinhard Wendehorst.
Lina-Hähnle-Medaille
Seit 1989 verleiht der NABU die Lina-Hähnle-Medaille. Ehrungen sind Ausdruck kollektiver Norm- und Sinnsetzungen. Sie sind auch Gegenstand gesellschaftlicher Deutungskämpfe darüber, was als ehrenwürdig gilt. Hierzu besteht im Kontext von NS-belasteten Straßennamen mittlerweile ein akzeptierter Kriterienkatalog. Der NABU hat sein 125-jähriges Bestehen zum Anlass genommen, ein Gutachten zu Lina Hähnles Rolle im Nationalsozialismus in Auftrag zu geben. Dieses empfiehlt in der Gesamtschau, gerade wegen vieler vorhandener Grautöne an der Bezeichnung Lina-Hähnle-Medaille festzuhalten.
Die vollständige Gleichschaltung zog sich also untypisch über fünf Jahre hin. Dies kam aber keinem Widerstand gleich. Es zeigt sich vielmehr ein Beharren, sich möglichst lange dem totalen NS-Herrschaftsanspruch zu entziehen. Während der Bund Naturschutz in Bayern bereits Ende 1933 jüdische Vorstandsmitglieder ausschloss, lobte der BfV noch 1936 öffentlich den jüdischen Pionier von Vogelaufnahmen Ludwig Koch.
Anverbandelungen
Im Kontrast zum Beharren stand das Bestreben, den BfV mit NS-Nebenorganisationen zu vernetzen und einen hochrangigen Unterstützer zu suchen. Über eine Nachbarin gelang es Lina Hähnle, Nistkästen auf dem Obersalzberg zu platzieren.
Versuche, den am Vogelschutz interessierten bayerischen Ministerpräsidenten Ludwig Siebert für den BfV zu gewinnen, scheiterten. Diese Bemühungen folgten der Eigenlogik, „mein Lebenswerk zu festigen“, also „eigene Interessen und Überzeugungen“ zu wahren.
Hähnles Grenzlinie war der Kern der NS-Ideologie, also Rassismus und Antisemitismus. Privat überschritt sie diese Grenze nie, war sogar angesichts der Ermordung ihres Sohnes 1940 mittelbar ein Opfer der NS-Diktatur. Dass das private Schicksal Einfluss auf die Politik der Funktionsträgerin hatte, ist nicht direkt belegbar, erscheint aber lebenswirklich sehr plausibel. Das demonstrative Tragen des Mutterkreuzes Weihnachten 1940 kann im Licht neuer Quellen als stiller Protest gegen die Diktatur gelesen werden.
Konsequenzen für das Heute
Lina Hähnle und damit der BfV bewiesen längere Zeit ein Beharren. Nach Hähnles Tod 1941 folgte allerdings ein Dammbruch. Die Verbandsleitung erwog sogar – erfolglos –, den Reichsführer-SS Heinrich Himmler als Protegé zu gewinnen. Dass sich der BfV letztlich doch in die NS-Diktatur integrierte, lag in seinem überparteilichen Selbstverständnis. Dieses war nicht an Werte gekoppelt.
Für einen demokratischen Natur- und Umweltschutzverband wie den NABU folgt daraus: Überparteilichkeit ist kein formales Kriterium, sondern ist untrennbar mit den Werten des Grundgesetzes verbunden. Dies wäre auch im Sinne Lina Hähnles. Welche Folgen eine nichtwertegebundene Überparteilichkeit hatte, musste sie in ihrer Familie selbst erfahren.
Dr. Hans-Werner Frohn, wissenschaftlicher Leiter und Geschäftsführer der Stiftung Naturschutzgeschichte (Naturschutz heute 1/24)
Das Gutachten zum Download
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