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Jetzt NABU-Mitglied werden!„Bäume lügen nie“
Claus Mattheck optimiert technische Bauteile nach den Prinzipien der Natur
Der Mann ist in seinem Element. Mit raumgreifendem Schritt durcheilt er den Wald. Äste knacken unter dem Tritt der kniehohen Schaftstiefel, Laub raschelt. Zielstrebig bahnt sich Baumforscher Claus Mattheck den Weg durch das Unterholz. Sein Ziel ist eine alte Buche, ein Solitär umgeben von Stangenbäumchen und niederen Büschen. Ihr knorriger Stamm gabelt sich drei Meter über dem Boden in zwei starke Arme, die sich gen Himmel recken wie die Finger beim Victory-Zeichen.
Zärtlich streichelt Mattheck über den bemoosten Stamm: „Vor 25 Jahren war der noch fit wie ein Turnschuh.“Jetzt nicht mehr. Ein gefährlicher Pilz zerfrisst den Stamm der Buche. Mattheck greift in eine offene Stelle im Wurzelbereich und zerreibt morsches Holz zwischen den Fingern: „Holzerweichung. Der Baum ist im Endstadium.“
Den Bäumen hat Claus Mattheck viel zu verdanken. Beispielsweise, dass er 1985 zum Chef der Abteilung Biomechanik am Forschungszentrum Karlsruhe aufstieg. Der heute 62-jährige Physiker gilt als Vorreiter der Bionik, eines Wissenschaftszweigs, der die Prinzipien der Natur erforscht und für die Technik nutzbar macht.
Leichtbauprinzip der Bäume
Bäume wachsen spannungsoptimiert, hat Mattheck herausgefunden. An Stellen, die besonders beansprucht werden, entwickelt sich zusätzliches Holz; es bilden sich Rippen oder Wülste, die die erhöhte Spannung wieder ausgleichen. Damit verhindern Bäume, dass ihre weit ausladenden Äste unter der Last von Sturmböen und Schneemassen brechen. Deutlich zu sehen am Victory-Baum: Eine dickbemooste Rippe, die bis zum Boden reicht, stabilisiert seine Gabelung.
Der Physiker hat das Prinzip, das er „Axiom konstanter Spannung“ nennt, auf ein Computerprogramm übertragen, mit dem heute die Industrie ihre Bauteile konstruiert. Nach Mattheck optimierte Motoraufhängungen sind bei halbem Gewicht weit stärker belastbar als herkömmliche, orthopädische Schrauben für Metallimplantate im Körper halten bei gleicher Materialstärke 20-mal länger als die vorher üblichen. Inzwischen hat Mattheck sein Verfahren soweit vereinfacht, dass er auf den Computer verzichten kann. Nun genügen Geodreieck und Bleistift, um das Leichtbau-Prinzip der Bäume für den Maschinenbau zu nutzen.
Die Grasfläche vor seinem Institut hat der Wissenschaftler zum Lagerplatz für seine Fundstücke umfunktioniert. Zersägte Stämme und verdrehte Wurzelstöcke säumen den Trampelpfad, der zur Eingangstür des barackenähnlichen Gebäudes führt. Im Keller hat Mattheck sein Büro; allerdings gleicht der Raum eher einem Holzlager: In deckenhohen Regalen stapeln sich Baumstümpfe, ausgesägte Stammscheiben und zerborstene Äste. Für Mattheck sind das Beweisstücke, denn im Nebenberuf ist er Sachverständiger für das Bruchverhalten von Bäumen.
Skepsis in der Fachwelt
Der Physiker hat das Verfahren der Visuellen Baumkontrolle (VTA) entwickelt; mit dessen Hilfe sich Problembäume durch einfache Sichtprüfung identifizieren lassen. Je ungünstiger das Verhältnis von Höhe zu Stammfuß-Durchmesser, desto leichter brechen Bäume. Auch das Verhältnis von Krone zu Stamm spielt eine Rolle. Als Mattheck Anfang der 90er Jahre seine VTA-Methode der Öffentlichkeit vorstellte, war die Skepsis in der Fachwelt zunächst groß. Was versteht ein Physiker schon von Bäumen?
Die Kritik gewann an Fahrt, als Bundespräsident Johannes Rau den Baumforscher im Jahre 2003 „in Anerkennung seines bisherigen wissenschaftlichen Lebenswerks“ mit dem Deutschen Umweltpreis auszeichnete. Mattheck wurde regelrecht angefeindet: Die VTA-Methode sei unwissenschaftlich, warfen ihm konkurrierende Baumexperten vor und zogen seinen Sachverstand in Zweifel. „Ich habe 100 Mal bewiesen, dass ich das Richtige tue“, kontert Mattheck. „Wer das nicht glaubt, soll das Gegenteil beweisen.“ Der Beweis steht bis heute aus. VTA hingegen wird inzwischen weltweit angewandt und ist anerkannter Standard in der Rechtsprechung.
„Bäume lügen nicht, sie lügen niemals“, sagt Stupsi, der kleine Igel mit der Ledermütze. Mattheck hat ihn sich ausgedacht. Wo andere in ihren Publikationen wissenschaftliche Erkenntnisse mit sperrigen Endlosformeln illustrieren, lässt Mattheck Stupsi in bunten Cartoons erklären, was der Mensch von den Bäumen lernen kann. Die Bäume haben Augen, Mund und Nase, manchmal kullern dicke Tränen den Stamm hinunter. Der Baumforscher ist besessen von der Idee einer „Volksmechanik“, die jeder Schlosser verstehen und anwenden kann: „Was wir hier machen, bezahlen die Leute mit ihren Steuern“, sagt er. „Also sollen sie auch etwas davon haben.“
Sonnenbrille und Hirschfänger
Genauso unkonventionell wie seine Publikationen mutet das Outfit des Baumforschers an: Mit schulterlangem Haar, Sonnenbrille, kniehohen Schaftstiefeln und Hirschfänger am Gürtel entspricht Claus Mattheck ganz und gar nicht dem gängigen Bild eines Wissenschaftlers. In seine Vorlesungen strömen die Studenten in Scharen, denn nicht nur der Erkenntniswert ist hoch. Um die Faltenbildung der Baumrinde zu verdeutlichen, biegt Mattheck beispielsweise den Oberkörper von links nach rechts, und die Wirkung von Torsionskräften zeigt er, indem er seine Jacke auswringt wie einen Putzlumpen.
Der breite Dialekt, mit dem er die „Grundsätze der Mäschanik“ erläutert, verrät den gebürtigen Sachsen. Physik-Studium in Dresden, zwei Jahre DDR-Knast wegen Republikfluchtversuch, nach der Abschiebung ein Job im damaligen Kernforschungszentrum Karlsruhe – das waren die ersten Stationen von Matthecks Karriere. Mit Baumforschung hat das nur wenig zu tun. „Ich bin Quereinsteiger“, sagt Mattheck mit einem Schuss Selbstironie. „Anfangs kannte ich nicht mal die Namen der Bäume.“
Hartmut Netz