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Jetzt NABU-Mitglied werden!Winterschlaf nicht nur beim Murmeltier
Auch der Körper des Menschen reagiert auf kürzere Tage und weniger Licht
Rund ein Zehntel der Europäer überfällt der Winterblues. Ihnen fehlt vor allem eines: Sonnenlicht. Scheint die Junisonne in München noch durchschnittlich sieben Stunden, sind es im November nur noch etwa zwei pro Tag. Bären und Murmeltiere versinken bei diesen trüben Aussichten in den Winterschlaf. Auch der menschliche Organismus fährt auf Sparflamme, doch er muss seine Höhle verlassen.
Ohne Sonne gäbe es bekanntlich kein Leben auf unserem Planeten. Sie gilt als Siegerin über die Dämonen der Finsternis, sie wird verehrt als Erzeugerin des Lichtes, des Lebens, der Fruchtbarkeit, als Teilerin der Zeit, als Wegweiserin. Helios und Aurora stehen für die Kräfte von Sonne und Morgenröte. Spalnemohuani, "die Kraft, durch die Menschen leben", nannten die alten Mexikaner die Sonne.
Lebensquelle in der Ferne des Alls
Aus einer Entfernung von 150 Millionen Kilometern strahlt die Sonne eine unvorstellbare Energiemenge in den Weltraum ab, von denen 1,5 x 1018 Kilowattstunden die äußere Erdatmosphäre erreichen. Von dieser Strahlungsenergie entfallen 14 Prozent auf den ultravioletten Bereich (UV), 37 Prozent sind sichtbares Lichtes und 49 liegen im infraroten Bereich (IR).
Durch den winterlichen Mangel an Sonnenlicht in den nördlichen Breiten kommt unsere innere Uhr spürbar aus dem Takt. "Im Winter gerät unser Körper in einen Konflikt zwischen der zivilisierten Arbeitswelt und dem veränderten Stoffwechsel", erklärt Dr. Jürgen Zulley, leitender Psychologe am Bezirksklinikum Regensburg. Über die Augen dirigiert das Licht die Zirbeldrüse. Lichtmangel führt zu erhöhter Ausschüttung des Schlafhormons Melatonin. Wird es nun tagsüber nicht wirklich hell, fehlt der Taktgeber, der Melatoninspiegel bleibt oben - die Folgen: Müdigkeit, Antriebslosigkeit, Erschöpfung.
Ein hoher Melatoninspiegel vermindert außerdem die Lust auf Sex und setzt die Fruchtbarkeit herab. Im Norden Schwedens werden die meisten Kinder im Frühjahr geboren. Sie wurden im Sommer zuvor gezeugt, als der Melatoninspiegel der Eltern niedrig und die Fruchtbarkeit der Mutter hoch war.
Im Winter stimmt die Chemie nicht
Auch chemische Botenstoffe im Gehirn, die Neurotransmitter, reagieren auf Lichtmangel: Unser Appetit auf Süßes steigt. Eine Schlüsselrolle spielt Serotonin. Tageslicht kurbelt die körpereigene Produktion dieses Gute-Laune-Machers an. Werden die Tage kürzer, sinkt der Serotoninspiegel - und mit ihm unsere Laune gen Null. In Schokolade, Lebkuchen oder Gummibärchen steckt Turbo-Nachschub für den Stimmungsaufheller: Um den Zucker im Blut zu verarbeiten, stellt der Körper Insulin bereit, wodurch wiederum die Aminosäure Tryptophan, die zur Bildung von Serotonin nötig ist, schneller zum Gehirn gelangt. Zugleich setzen Zucker, Fett und Kakao Glückshormone, die Endorphine, frei.
Kein Wunder also, dass viele Menschen im Winter zu "Schokoholics" werden - und einige Pfunde zulegen. Gesünder lebt es sich da mit kohlehydratreichen Lebensmitteln wie Nudeln, Bohnen und Bananen ankurbeln, denn auch sie enthalten Tryptophan. Das sanft geweckte Wohlgefühl hält länger; denn je schneller der Blutzuckerspiegel steigt, desto schneller sinkt er auch wieder. Zum gesunden Endorphinkick kommt man durch Sport oder Sex.
Lichtduschen helfen auf die Sprünge
Das winterliche Hormontreiben beeinträchtigt Jung und Alt, etwa 80 Prozent der von der Wintermelancholie Betroffenen sind weiblichen Geschlechts. "Eine vorübergehend gedrückte Stimmung ist kein Grund zur Besorgnis", sagt Prof. Dr. Ulrich Hegerl, Sprecher des Kompetenznetzes "Depression" der Psychiatrischen Klinik der Universität München. Längere Aufenthalte im Freien, Bewegung oder lichtdurchflutete Räume können das düstere Gemüt aufhellen. Bei extremer Wintermelancholie hilft die Lichttherapie: Eine zweistündige "Lichtdusche" von 2.500 bis 10.000 Lux - das 20-fache dessen, was eine normale Schreibtischlampe leistet - hellt die Seele täglich auf. Der Lichtkick wirkt doppelt: Das Schlafhormon Melatonin wird abgebaut und die Serotoninproduktion angekurbelt.
Nicht jeder winterliche Durchhänger ist auf Lichtmangel zurückzuführen. Stress, tägliche Hektik und permanente Reizüberflutung können das chemische Gleichgewicht ebenso durcheinander bringen wie Umwelt- und Genussgifte, Lärm, Hitze oder Kälte. Zur Klärung der Ursachen ist ärztliche Beratung nötig.
Spazieren und Joggen gegen Hormonmangel
Fledermäuse und Murmeltiere setzen alle Lebensfunktionen auf Sparflamme und verschlafen einfach die kalte Jahreszeit. Doch auch Winterschläfer erwachen regelmäßig aus ihrer eisigen Starre. US-Forscher erklären dieses energiezehrende Verhalten damit, dass sie ihr Immunsystem in Gang setzen, um Krankheitserreger abzuwehren. Unser Immunsystem wird durch Bewegung ebenso mobilisiert. Laut einer Studie der Uni Tübingen beeinflusst Sport zudem die innere Uhr ähnlich wie Licht. Ob Spaziergang, Joggen oder Rad fahren: Die Bewegungsaktivität kurbelt die erhellende Serotoninproduktion an.
An den Polen dauert die Nacht sechs Monate. Erscheint die Sonne dann endlich im Frühjahr über dem Horizont, geht sie sechs Monate nicht mehr unter. Je weiter man sich von den Polen entfernt, desto weniger Tage bleibt das Zentralgestirn rund um die Uhr am Himmel. In Stockholm geht die Sonne im Winter erst gegen neun Uhr auf und schon um 15 Uhr wieder unter. Nach einstündiger Dämmerung ist es wieder Nacht. Im norwegischen Hammerfest, mehr als tausend Kilometer nördlich des Polarkreises, ist es Anfang Dezember und Ende Januar rund um die Uhr dunkel. An Sex denken die Leute in Hammerfest trotzdem; denn wer im Dezember heiratet, hat eine sehr lange Hochzeitsnacht.
Streitsucht durch Polarkoller
Während der steten Winterdunkelheit treten im hohen Norden schwerwiegende Stimmungsveränderungen und Schlaflosigkeit auf. Bei etwa 28 Prozent der Bewohner Alaskas verdunkelt sich das Gemüt, in New York sind es rund 17 Prozent und in Florida nur etwa 4 Prozent. Die Selbstmordrate ist in den nördlichen Breiten signifikant höher, Gewalt und Alkoholismus treten häufiger auf. Als "Polarkoller" beschreiben Forscher die in den Wintermonaten auffallend hohe Streitsucht und Ungeduld der Mitarbeiter auf Polarstationen.
Ohne täglichen Sonnenaufgang und -untergang verliert die Zeit ihre Bedeutung. Während der sommerlichen Helligkeit jagen die Arktisbewohner sowohl "nachts" als auch "tags". Wecker, die zum Schlafen "wecken", klingeln im Sommer, um einen künstlichen Tag-Nacht-Rhythmus zu erzeugen. Vor Einzug des elektrischen Lichtes lagen außerhäusliche Aktivitäten im immer dunklen Winter vorwiegend in der mittäglichen Dämmerung. In Alaska, Schweden und Norwegen sind lichtdichte Filzjalousien und schwere Vorhänge im Sommer etwas ganz Normales. Schulkinder, die im Winter matt und lustlos sind, erhalten zum Frühstück eine Lichtdusche. In den "weißen Räumen" des St. Görans-Krankenhaus in Stockholm sitzen Menschen, um ihr Gemüt aufzuhellen. Um sie herum ist alles weiß: der Boden, die Wände, sogar der Mülleimer.
Die Wende ist geschafft
Bedingt durch Klima und Ökologie stehen im hohen Norden hauptsächlich Fleisch und fettreicher Fisch auf dem Speiseplan. In Robben- und Eisbärenleber, Lachs und Aal stecken hochwertige, kochfeste Vitamine, die helfen, den harten Winter gesund zu überstehen. Schwedische Studenten versüßen sich den Winter: Der Run auf unzählige Süßigkeiten-Automaten an den Unis ist enorm, Schokoriegel & Co. werden täglich aufgefüllt.
Doch das schlimmste haben die Sonnenhungrigen hinter sich: Bereits am 21. Dezember war Wintersonnenwende, die Sonne war also an ihrem südlichen Wendepunkt und die Nordhalbkugel hatte ihren kürzesten Tag. Von diesem Zeitpunkt an werden die Tage nun endlich wieder länger und heller.
Eva-Maria Levermann