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Jetzt informieren!Alpines Ökosystem im Klimastress
Klimawandel im Zeitraffer
Der Bayerische Enzian, neben dem Edelweiß Sinnbild für die Alpenflora schlechthin, ist in Bedrängnis. Zuzügler aus niederen Regionen, wie Arnika oder Alpen-Rispengras, denen es in ihren angestammten Höhenlagen zu warm geworden ist, zieht es vermehrt in höhere Gefilde, wo auf humusreichen Böden der Enzian gedeiht. Der Gebirgsblume, deren königsblaue Blüten einst den Schlagersänger Heino inspirierten, könnten die Neuankömmlinge buchstäblich über den Kopf wachsen. Denn da diese meist größer sind als die alpine Charakterpflanze, haben sie im Kampf um Licht und Nährstoffe die besseren Karten.
In den Alpen vollzieht sich der Klimawandel im Zeitraffer. Die Temperaturen steigen dort dreimal so schnell wie im weltweiten Mittel. Und ein Temperaturanstieg von nur einem Grad im Jahresdurchschnitt entspricht in den Bergen bereits einem Höhenunterschied von 200 Metern. Gebirgspflanzen, so sie überleben wollen, müssen also klettern. Die Folge: Auf den Gipfeln steigt die Vielfalt der Pflanzenarten – und zwar umso mehr, je stärker die Erwärmung ist, wie eine Studie der Universität Nürnberg-Erlangen und des Schweizer Instituts für Schnee- und Lawinenforschung (Juni 2018) belegt. Was sich zunächst wie eine gute Nachricht anhört, bedeutet letztlich, dass Pflanzenarten wie der Bayerische Enzian, die sich perfekt an die rauen Bedingungen in großer Höhe angepasst haben, verdrängt werden könnten.
Wärmer, feuchter, stürmischer
Eine Entwicklung, die man im Nationalpark Berchtesgaden aufmerksam verfolgt. Auf der Fläche des knapp 210 Quadratkilometer großen Schutzgebietes rund um Watzmann und Königssee sind 14 automatische Klimamessstationen verteilt. Mit langjährigen Messreihen liefern sie die Daten für Prognosen und Klimaszenarien: Bis zum Jahr 2100 könnten die Temperaturen um fünf bis sechs Grad steigen, fürchtet Harald Kunstmann, stellvertretender Leiter des Instituts für Meteorologie und Klimaforschung in Garmisch-Partenkirchen, der seit vielen Jahren im Nationalpark forscht. Künftig sei mit wärmeren, feuchteren und stürmischeren Wintern und Frühjahren zu rechnen: „Wir werden in Temperaturbereiche vordringen, die es zuvor noch nie gegeben hat“, warnt der Experte.
Die Folgen der Klimakrise betreffen das gesamte Ökosystem des Nationalparks, dessen Bergwildnis als das artenreichste Gebirge Deutschlands gilt. Die Region ist Rückzugsgebiet für Gams, Steinbock und Murmeltier, Refugium für Uhu, Rauhfußkauz und Wanderfalke und zudem Jagdrevier für aktuell fünf Steinadler-Paare. Die Hangwälder sind durchsetzt von Totholzbäumen mit dürren Ästen, abgestorbenen Kronenresten und morschen Stämmen. Auf der aufgeplatzten Rinde alter Baumriesen wachsen Moose und seltene Flechten. Hier lässt man der Natur noch ihren Lauf, hier darf sie sich entfalten – weitgehend unbeeinträchtigt von menschlichen Eingriffen.
Bröckelnde Berge
So ist auch die Aufgabe des Nationalparks Berchtesgaden definiert: „Anders als in Natura-2000-Gebieten, wo bestimmte Arten oder Habitate im Mittelpunkt stehen, ist der gesamte Lebensraum geschützt“, erläutert Michael Vogel, der den Nationalpark bis August 2017 geleitet hat. Einschließlich natürlich-dynamischer Prozesse wie Erosion, Käferbefall oder Lawinenabgänge: „Der Nationalpark ist eine Art Freiluftobservatorium, in dem sich das freie Spiel natürlicher Dynamik beobachten und erforschen lässt“, führt der Ökologe im Ruhestand aus. „Auf diese Weise gewinnt man Erkenntnisse über Selbstheilungsprozesse, mit denen Natur sich wieder stabilisiert.“ Erkenntnisse, die sich auf die Kulturlandschaft übertragen ließen.
„Auch der Klimawandel lässt sich im Nationalpark wie unter dem Brennglas betrachten“, sagt Vogel. Besonders augenfällig am Blaueisgletscher in der Kernzone des Parks unterhalb der Felswände von Blaueisspitze und Kleinkalter: Seit 1950 sind mehr als vier Fünftel der Eismassen dahingeschmolzen. Noch dramatischer als die Gletscherschmelze sei jedoch das Auftauen des Permafrostes, warnt der Ökologe. Als Permafrost wird das ewige Eis in Klüften und Felsspalten bezeichnet, das Berge mit schneebedeckten Gipfeln zusammenhält. Permafrost wirkt wie ein Kitt, der ganzen Felsmassiven erst die innere Stabilität verleiht. Taut er, beginnt der Fels zu bröckeln. Steinschlag und Felsstürze hätten auch im Nationalpark Berchtesgaden zugenommen, berichtet Vogel.
Natur in neuem Kleid
Trotz der sich abzeichnenden Veränderungen werde der Nationalpark jedoch ein Hochgebirgsökosystem bleiben, ist er überzeugt: „Allerdings in einem neuen Kleid.“ Das betrifft beispielsweise die Artenzusammensetzung der Bergwälder. Die Fichte, ein typischer Vertreter des alpinen Lebensraumes, wird in tieferen und mittleren Höhenlagen dem wachsenden Klimastress weichen müssen. An ihre Stelle könnten Ahorn, Buche oder Tanne rücken.
Doch wohin mit all den Tier- und Pflanzenarten, die ihre angestammten Lebensräume verlassen müssen? Vogel befürwortet die Einrichtung eines ökologischen Verbundes. Das müsse man sich vorstellen wie einen Flickenteppich zusammenhängender, aber unterschiedlicher Landschaftstypen, beispielsweise Schutzgebiete, Almen, Biotope oder naturnahe Wälder, die wild lebenden Arten das Wandern, die geografische Verbreitung und den genetischen Austausch ermöglichten, erläutert der Ökologe: „Naturschutz braucht Platz.“
Hartmut Netz
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