Seidenschwanz an Schneeball - Foto: Thomas Schwarzbach/www.naturgucker.de
Invasion aus der Ferne
Was Seidenschwänze und andere Invasionsvögel zu uns führt
Zuerst fielen mir die Rufe auf, als ich die Treppe der Unterführung hochstieg. Es waren hohe, schrille und fremdartige Vogelrufe. Suchend blickte ich in die Wipfel der verschneiten Stuttgarter Parkanlagen. Ganz oben saß ein Schwarm knapp starengroßer, gedrungener Vögel mit einer eindrücklichen Färbung aus braun-rosa, schwarz und wenig gelb und rot: Seidenschwänze!
Seidenschwänze sind das Paradebeispiel für Invasionsvögel. Seit dem Spätmittelalter sind uns ihre Masseneinflüge bekannt. Wenn die Vogelmassen das Land überschwemmten, befürchtete man nichts gutes. Deshalb galten diese Singvögel in Deutschland als Kriegsvögel, in den Niederlanden heißen sie bis heute Pestvögel.
Mauserzug und Wetterflüchter
Gefiederte Invasoren zeigen uns nicht nur eine besondere Facette des Phänomens Vogelzug, sie lehren uns auch ökologisches Verständnis. Vögel haben verschiedene Wanderstrategien. Weitstreckenzieher wie unsere Rauchschwalben verlassen alljährlich ihr Brutgebiet in Europa, um in wärmeren Regionen zu überwintern. Mittel- und Kurzstreckenzieher dagegen unternehmen nur kleinere Wanderungen - zum Beispiel in den Mittelmeerraum - und Standvögel sind das ganze Jahr über ortstreu. Manche Vögel machen Zwischenzüge im Jahreslauf - wie der Star - oder einen Mauserzug wie die Enten. Andere weichen Klimaextremen aus, dann spricht man von Wetterflucht.
Invasionsvögel passen nicht in dieses Schema. Typisch für sie sind unregelmäßige, schwer voraussagbare Abwanderungen aus dem Brutgebiet. Große Teile der Brutpopulation emigrieren und tauchen dann massenweise in entfernten Regionen auf. Manche Ornithologen unterscheiden noch die umherziehenden Vagabunden von den Nomaden, die bei Nahrungsknappheit notgedrungen weiterziehen.
Wann und warum Vögel auswandern und andernorts Invasionen verursachen, ist nur teilweise geklärt. Hauptauslöser für den Massenexodus sind hohe Bestandsdichten oder die akute Verknappung lebenswichtiger Ressourcen wie Nahrung oder Wasser im Brutgebiet.
Mehr Früchte, mehr Wintergäste
Beim Seidenschwanz kennt man die Ursachen. Als Beerenfresser müssen für ihn Ebereschen ausreichend verfügbar sein. Mangelt es daran im Brutareal, ziehen im September die umherstreifenden Familienverbände immer weiter weg. Verschärft Schneefall die Situation, kommt es bis in den Dezember zu Massenfluchten, die sogar Laien auffallen. Als typische Fruchtfresser machen sich dann Seidenschwänze über alle erreichbaren Beeren und selbst Äpfel her. Dabei sind sie in Parks und Gärten oft ziemlich vertraut und unvorsichtig. Meistens zählen die Trupps weniger als 50 Vögel. Ob und wie viele Seidenschwänze auftauchen, hängt mit der Qualität des Winterquartiers zusammen: Mehr Früchte bedeuten mehr Wintergäste.
Für manche Arten läuft sich die Invasion tot, das heißt sie überleben die Auswanderung nicht. Andere siedeln sich in der Fremde neu an, weiten also ihr Verbreitungsgebiet aus. Mit Invasionen hat zum Beispiel der Birkenzeisig sein Brutgebiet in Großbritannien, den Niederlanden und im bayerischen Alpenvorland erweitert. Und Arten, die wie der Seidenschwanz oft bis März oder in den Sommer in der Fremde bleiben, aber regelmäßig ins Herkunftsgebiet zurückwandern, entschärfen mit der späten Heimkehr die Brutplatzkonkurrenz innerhalb der Art.
Schon im Mittelalter bekannt
Invasionen gibt es bei vielen Vogelarten. Am bekanntesten sind Bergfinken und Tannenhäher. Letzterer hängt von den Zirbelkiefer-Samen in Sibirien ab. Mangelt es daran, kommen die dünnschnabligeren sibirischen Häher in Scharen zu uns. Flugstrecken bis zu 3000 Kilometer sind dokumentiert. Bergfinkeneinflüge sind seit dem Mittelalter bekannt. In Jahren mit vielen Bucheckern finden sich Millionen Vögel in Wäldern und abends an Schlafplätzen ein. Oft müssen Straßen gesperrt werden, wenn sich ein „Vogelteppich“ darüber hinweg bewegt.
Fleisch fressende Vögel wie Raufußbussard, Raubmöwen, Schnee- und Sperbereule, Raufuß- und Sperlingskauz wandern bei Bestandstiefs ihrer Beutetiere aus. Finden Sumpfohreulen keine Lemminge, kommen sie bis in die Norddeutsche Tiefebene, bilden dort auf Feldern Versammlungen von zig Exemplaren und jagen Feldmäuse. Früher traf man in Süddeutschland sogar auf hunderte Sumpfohreulen und manche brüteten sogar mehrere Jahre, als sie noch geeignete Moore vorfanden.
Gelegentliche hohe Vermehrungsraten führen zu dichtebedingten Wanderungen bei Buntspecht, Eichelhäher, Kohl- und Blaumeise. Meisen brauchen zahlreichen Nachwuchs, um Ausfälle durch Feinde und Witterung zu kompensieren. Bei Massenvermehrung kommt es zu Großinvasionen mit zugartigem Verlauf, bei dem die eigentlich selten ziehenden Kohlmeisen Strecken von 500 Kilometern zurücklegen.
Kein Hinweis auf strengen Winter
Fichtenkreuzschnäbel wiederum kommen bei fehlenden Fichtensamen in großen Flügen aus dem Osten im Juni bis August. Aber Ausnahmen bestätigen die Regel: Wanderungen fanden auch in satten Jahren statt oder blieben in Mangeljahren aus. Die Invasionsintervalle liegen zwischen einem und 17 Jahren. Entfernungen bis zu 4000 Kilometer legen die Kreuzschnäbel zurück.
Als noch keine Heuschrecken nachhaltig bekämpft wurden, kamen regelmäßig die eigentlich in Indien überwinternden Rosenstare aus ihrem türkischen Brutgebiet bis nach Portugal, Irland und Island. Invasionen führen auch Bindenkreuzschnabel, Lapplandmeise und Zedernseidenschwanz zu uns - zur Freude der Vogelbeobachter. Steppenvögel schließlich gehen wegen Wassermangel auf Wanderschaft. So gab es zwischen 1863 und 1908 mehrere Großinvasionen des Steppenhuhns aus Asien bis zu den Britischen Inseln.
Trotz vieler geklärter und ungeklärter Sachverhalte ist eines sicher: Invasionsvögel bereichern unsere Fauna, geben aber keinen Anhaltspunkt für die Strenge des bevorstehenden Winters.
Stefan Bosch
Verwandte Themen
Die meisten Vögel verlassen uns im Herbst, um im Süden zu überwintern. Doch es gibt Vögel, die hier bleiben. Aber welche Vögel sind das, wie schaffen sie es, sich den harten Winterbedingungen zu widersetzen und warum bleiben sie eigentlich hier? Mehr →
Vogelfütterung ermöglicht Vogelbeobachtung aus nächster Nähe. Bequem vom Fenster aus kann man wildlebende Vogelarten erleben und ihr Verhalten studieren: Welche Arten kommen und wann? Welches Futter wählen sie und wie bearbeiten sie es? Wer streitet mit wem? Mehr →
Wie viele Blaukehlchen brüten in Deutschland, wie balzen Kraniche und wie sehen eigentlich Kampfläufer aus? In unseren Vogelporträts haben wir viele Zahlen, Informationen und Bilder von unseren heimischen Vögeln zusammengestellt. Schauen Sie doch mal rein. Mehr →