Viele Arten wie der Seeadler konnten von der Vogelschutzrichtlinie profitieren, und die Bestände haben sich erholt. - Foto: NABU/Thomas Krumenacker
40 Jahre EU-Vogelschutzrichtlinie
Interview mit NABU-Vogelschutzexperten Lars Lachmann zum Jubiläumsjahr 2019
Herr Lachmann, die EU-Vogelschutzrichtlinie trat am 2. April 1979 in Kraft. Worum geht es in dieser Richtlinie?
Grundsätzlich soll die Vogelschutzrichtlinie dafür sorgen, dass alle Vögel in der EU einen günstigen Erhaltungszustand erreichen. Das bedeutet, dass ihre Populationen langfristig stabil bleiben, dass ihre Lebensräume geschützt werden, und dass sie ihre Rolle im Ökosystem dauerhaft ausfüllen können.
Erreicht werden soll das vor allem durch drei Maßnahmen. Durch die Richtlinie wird zum Einen die Jagd europaweit einheitlich und streng reguliert: Nur eine vergleichsweise kurze Liste von Vogelarten darf zur Jagd freigegeben werden. Zum Anderen werden besonders bedrohte Arten und alle Zugvögel aktiv geschützt. So werden zum Beispiel Fördermittel zur Verfügung gestellt, von denen Projekte zum Schutz dieser Arten finanziert werden.
Welche Vogelarten sind damit genau gemeint?
Insgesamt gehören dazu 181 Arten, die aus damaliger Sicht besonders bedroht waren, und die in dem sogenannten Anhang 1 der Vogelschutzrichtlinie gesondert aufgelistet werden. Dazu gehören unter anderem Seeadler, Großtrappe, Weiß- und Schwarzstorch, Kranich und Mittelspecht.
Und was ist – neben der Regulierung der Jagd und den aktiv geschützten Arten – die dritte Maßnahme?
Als weitere Maßnahme, um die genannten Arten aktiv zu schützen, wurden deren wichtigste Vorkommensgebiete als besondere Schutzgebiete ausgewiesen, die sogenannten EU-Vogelschutzgebiete. In Deutschland sind das heute allein 742 Schutzgebiete, die etwa 11,3 Prozent der Landfläche bzw. 14,5 Prozent der Land- und Meeresflächen Deutschlands ausmachen.
Nun besteht die Richtlinie schon seit 40 Jahren. Wie können wir uns den Vogelschutz in Europa zum Zeitpunkt der Einführung vorstellen?
Damals sah der Vogelschutz in den einzelnen Mitgliedsstaaten noch sehr unterschiedlich aus oder war teilweise gar nicht vorhanden. In vielen Ländern konnten Vögel uneingeschränkt gejagt und gehandelt oder ihre Lebensräume ungehindert zerstört werden.
Doch Vögel kennen keine Grenzen: Viele Zugvögel wurden zwar in nördlichen Staaten geschützt, dann aber auf dem Weg nach Süden abgeschossen oder in Netzen und Fallen gefangen. So konnten die Vögel nicht erfolgreich geschützt werden. Mit der neu eingeführten Vogelschutzrichtlinie sollten die Schutzmaßnahmen in allen Ländern vereinheitlicht werden, um einen effektiven Vogelschutz überhaupt erst zu ermöglichen.
Und denken Sie, dass das erreicht werden konnte?
Zumindest die rechtlichen Grundlagen des Vogelschutzes sind inzwischen überall in der EU vergleichbar. Insgesamt war die Umsetzung der Richtlinie vor allem ein jahrzehntelanger Kampf, der immer noch anhält. Die Vogelschutzrichtlinie ist eine der ersten EU-Richtlinien überhaupt. Immer wieder konnten die Vorgaben der Richtlinie nur durch massiven Druck der EU-Kommission oder in Gerichtsverfahren durchgesetzt werden. Dabei hat sich die EU-Rechtsprechung maßgeblich auch anhand von Fällen aus dem Bereich Vogelschutz entwickelt und gefestigt.
Die Ausweisung der Schutzgebiete zum Beispiel, die eigentlich schon zwei Jahre nach Inkrafttreten abgeschlossen sein sollte, wurde in Deutschland drastisch verzögert: Erst seit 2009 – also nach 30 Jahren – gibt es hierzulande ein einigermaßen vollständiges Vogelschutzgebietsnetz.
Heute sind Sie aber ein großer Befürworter der Richtlinie ...
Das stimmt! Ich halte die Vogelschutzrichtlinie für eins der effektivsten Naturschutz-Instrumente weltweit.
Wie begründen Sie Ihre Meinung?
In einer Studie von 2015 haben Wissenschaftler untersucht, wie sich die Vogelbestände in Europa entwickelt haben. Dabei hat sich herausgestellt, dass sich genau die Arten, die durch die Vogelschutzrichtlinie aktiv geschützt werden sollen und für die Schutzgebiete auszuweisen sind (also die Arten des Anhang 1 der Richtlinie) besser entwickeln als alle anderen Arten.
Außerdem ist dieser Effekt in den älteren EU-Mitgliedstaaten, in denen die Vogelschutzrichtlinie schon länger gilt, stärker als in den neueren Mitgliedstaaten. In Nicht-EU-Ländern Europas gibt es diesen Effekt überhaupt nicht. Beispiele für Vögel, die besonders von der Vogelschutzrichtlinie profitiert haben, sind Schwarzstörche, Seeadler, Wanderfalken und Kraniche. Deren Populationen haben sich in Deutschland und anderen EU-Ländern in den letzten Jahrzehnten zum Teil auf spektakuläre Weise erholt. Ein großer Erfolg für die Vogelschutzrichtlinie!
Dennoch ist immer wieder vom Vogelsterben und großen Verlusten die Rede. Wo liegen die Defizite der Vogelschutzrichtlinie?
Trotz aller Erfolge gelingt es leider nicht, die Vögel der Agrarlandschaft wie Kiebitz, Rebhuhn und Feldlerche zu schützen: Laut den Daten des europaweiten Vogelmonitorings sind zwischen 1980 und 2016 in der EU 56 Prozent aller Feldvögel verschwunden. Also mehr als jeder zweite Vogel.
Wie erklären Sie sich das?
Es betrifft gerade die Allerweltsarten, die eigentlich sehr häufig sind und flächendeckend vorkommen sollten. Dadurch wurden sie nicht im Anhang 1 als besonders zu schützende Arten aufgeführt und sind auch nicht durch spezielle Schutzgebiete zu fassen. Sie fallen nun durch das Raster. Eigentlich hat die Vogelschutzrichtline zwar den Anspruch auf der ganzen Fläche für ausreichenden Vogelschutz zu sorgen. Aber gerade in landwirtschaftlichen Räumen wirkt die derzeitige EU-Agrarpolitik gegen die Ziele des Vogelschutzes. Hier kann die Vogelschutzrichtlinie bisher wenig ausrichten.
Was denken Sie, wie dieser Entwicklung entgegengesteuert werden kann?
Wichtig ist, dafür zu sorgen, dass andere EU-Politikbereiche die Ziele der Vogelschutzrichtlinie unterstützen statt diese zu konterkarieren. Der NABU fordert daher vor allem eine neue Ausrichtung der EU-Agrarpolitik: Wenn Landwirtinnen und Landwirte sich in ihrem Betrieb für die Natur einsetzen, sollte es sich auch finanziell für sie lohnen. Zurzeit werden Subventionen durch pauschale Direktzahlungen verteilt – ungeachtet dessen, ob das Land naturverträglich bewirtschaftet wird oder nicht. Das muss sich dringend ändern, damit Feldlerchen und Co. genügend Lebensräume finden und sich die Bestände der Feldvögel wieder erholen können.
Gleichzeitig müssen die bestehenden Defizite bei der Umsetzung der Vogelschutzrichtlinie energisch angegangen werden: Für viele Vogelschutzgebiete gibt es noch keine Schutzkonzepte, für viele geplante Maßnahmen kein Geld. Letzteres ließe sich durch eine Reform der Agrarfinanzierung leicht ändern. Die meisten Naturschutzmaßnahmen werden ohnehin durch Landwirtinnen und Landwirte durchgeführt, die daher durch eine angemessene Naturschutzfinanzierung profitieren könnten.
Vielen Dank für das Gespräch!
„Der Falke“-Artikel zum Herunterladen
Sehr ausführlich behandelt NABU-Experte Lars Lachmann das Thema auch in dem Artikel „Erfolgsmodell mit Umsetzungsbedarf: Die EU-Vogelschutzrichtlinie“. Erschienen ist er im „Der Falke“-Sonderheft „Vogelschutz“.
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