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Wintergäste aus dem hohen Norden
Beobachtungstipp: Wildgänse zu Besuch am Unteren Niederrhein
In der Dämmerung liegen die kleinen, flachen Teiche vor uns. Am Horizont geht über dem kleinen Wäldchen die Sonne unter. Wer genau hinsieht, erkennt in der Luft die vielen schwarzen Punkte. Dann hören wir ganz leise die ersten Rufe. Lange Ketten von Wildgänsen sind es, die auf ihrem Weg zu den Schlafplätzen immer näher auf uns zu kommen.
Die Gänse bieten am Niederrhein ein winterliches Naturschauspiel, das in jedem Jahr über 2000 Besucher anlockt. Im Näherkommen werden die trompetenden Rufe lauter, doch wir hören sie nur dumpf. Obwohl die Vögel durch das Fernglas zum Greifen nah erscheinen, trennt uns eine Scheibe Glas von ihnen. Wohlig warm und windgeschützt, sitzen wir in bequemen Sesseln, sodass die Winterexkursion ein bisschen einem Kinobesuch ähnelt. Denn Gänsefreunden und Naturliebhabern bietet die NABU-Station Kranenburg Busexkursionen zu den Vögeln aus dem Norden an. So ist ein Besuch bei den Wildgänsen stressfrei – nicht nur für die Touristen.
Größtes Rastgebiet Westeuropas
Bis zu 180.000 arktische Wildgänse fliegen im November aus den sibirischen Brutgebieten bei uns ein und überwintern in der Gegend zwischen Duisburg und dem niederländischen Nijmegen. Damit ist der Untere Niederrhein das größte Rastgebiet Westeuropas. Jahrzehnte der Verfolgung haben die Gänse den Menschen fürchten gelehrt. Beim kleinsten Verdacht fühlen sie sich bedroht und flüchten in die Luft. An den lauten Verkehr auf den Straßen dagegen haben sich die Tiere gewöhnt, er stört sie überhaupt nicht.
„Eigentlich fressen die Gänse den ganzen Tag. Drei Monate verbringen sie auf den Grünflächen in Rheinnähe, um sich Fett für den Rückflug anzufressen“, erklärt Exkursionsleiterin Andrea Schulze. „Wildgänse brauchen offenes Grünland. Wenn sie dort genug zu fressen finden, müssen sie nicht auf Ackerflächen ausweichen, wo sie großen Schaden anrichten können.“
Auf einer Wiese sitzen schon einmal 8.000 Gänse zusammen. Verständlich, dass die immer hungrigen Wintergäste bei Landwirten nicht unbedingt beliebt sind. Dabei ist das Aufschrecken der Vögel eher kontraproduktiv, sorgt es doch dafür, dass die Tiere noch mehr fressen müssen, um den Energieverlust auszugleichen.
Gänseschonender Tourismus
„Wir können nicht von den Landwirten verlangen, den Gänsen gegenüber tolerant zu sein und sie nicht von ihren Feldern aufzujagen, und gleichzeitig zulassen, dass unaufgeklärte Touristen die Tiere aufschrecken“, findet Andreas Jünemann vom NABU Kranenburg. So entstand 1992 der Plan, Busexkursionen zu den Gänsen anzubieten. „Jeder kommt in den Genuss, die Tiere zu sehen, und zwar in einer naturverträglichen Weise“, so Jünemann. Und das kommt gut an. Auch wenn die Anreise der Gänsefreunde nicht ganz so weit ist wie die der Tiere, so kommt doch die Hälfte der Besucher aus einer Entfernung von 100 bis 200 Kilometern. Auch Reisegruppen aus Baden-Württemberg oder München sind nicht ungewöhnlich. „So sind die Exkursionen heute ein gutes Beispiel für funktionierenden, sanften Tourismus“, freut sich Jünemann.
Sind Gänse zu sehen, hält der Bus an. Schnell zücken die Reisenden ihre Ferngläser und spähen in die ausgedehnten Wiesen. Viele hundert Blässgänse sind zu sehen. Man erkennt sie an der weißen Stelle, der namensgebenden Blässe über dem Schnabel. Um die Saatgänse zu entdecken, braucht man gute Augen. Auf den umgepflügten Äckern sind die braunen Vögel bestens getarnt.
Mancherorts auf den Wiesen sitzen auch Nil- und Graugänse. Die sind allerdings keine saisonalen Gäste, sondern ganzjährig am Niederrhein heimisch. Die auffällig bunten Nilgänse sind keine Auswanderer aus Afrika, sondern stammen von flüchtigen Zootieren ab.
Tausend Kilometer am Stück
Ihnen allen bieten die Feuchtwiesen am Niederrhein ein exzellentes Quartier. Da Flächen wie diese europaweit immer seltener werden, ist der Erhalt der Gebiete sehr wichtig. Der untere Niederrhein wurde als Feuchtgebiet von internationaler Bedeutung ausgewiesen und große Flächen stehen inzwischen unter Naturschutz.
Bis Ende Februar bleiben die Gänse aus dem Norden in Deutschland. Die russischen Gäste sind Langstreckenzieher. Sie legen die 6000-Kilometer-Strecke in nur wenigen Etappen von täglich bis zu 1000 Kilometern zurück. Nach dem anstrengenden Flug folgt eine lange Pause, in der die Tiere sich Kraftreserven für die nächste Etappe anfressen. Durch die typische Keilformation im Flug sparen sie rund ein Drittel an Energie, da alle Tiere im Windschatten der ersten Gans fliegen können. Diese besonders kraftraubende Position wird immer wieder neu besetzt, damit die Anstrengungen auf alle Vögel im Schwarm gleich verteilt sind.
Flexible Reiserouten
Kaum sind die Wildgänse in Sibirien angekommen, geht das Brutgeschäft los. Nach vier Wochen schlüpfen die Jungen. Etwa sechs Wochen bleiben den Kleinen, um groß zu werden, dann geht es schon auf die erste Reise. Den Weg in den Süden lernen die Jungen von ihren Eltern. Doch die Route ist keineswegs festgeschrieben. Wird es an der einen Stelle zu kalt, ziehen die Gänse weiter Richtung Süden. Ist es tief im Norden noch warm genug, machen die Tiere dort Rast.
Durch die Erderwärmung wäre es also gut möglich, dass das beeindruckende winterliche Schauspiel bald aus Nordrhein-Westfalen verschwindet und sich weiter in den Norden verlagert. Ob die Tiere dort auch so gute Lebensbedingungen vorfinden werden wie am Niederrhein? Sicher ist, dass die faszinierenden Vögel allerorts die Menschen in ihren Bann ziehen.
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