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Jetzt spenden!Wildkaninchen erobern die Stadt
Lebenswichtiges auf engstem Raum
Bei drohender Gefahr trommeln Wildkaninchen Alarm. Dafür klopfen sie mit den Hinterläufen mehrmals hintereinander kurz und fest auf den Boden. Der dumpfe Ton, der dann erklingt, ist über größere Distanz vernehmbar und warnt alle Artgenossen in der Umgebung. In Gefahr schweben Wildkaninchen des Öfteren. Vor allem auf dem Land, wo sie Dünen, Eisenbahndämme, bewaldete Böschungen oder die halboffene Feldflur besiedeln.
Dort sind sie bevorzugte Beute von Iltis, Wiesel, Marder, Fuchs, Luchs und Wolf. Aber auch Eulen und Raben sind interessiert an Wildkaninchen. In der Stadt, in die es die Tiere seit einigen Jahren verstärkt zieht, ist das anders. Natürliche Feinde fehlen weitgehend, und an den Menschen haben sie sich gewöhnt: „Sie haben gelernt, dass Menschen ungefährlich sind“, sagt die Verhaltensbiologin Madlen Ziege.
Sie hat das Leben urban lebender Wildkaninchen für ihre Doktorarbeit erforscht. Die von den ausgeräumten, monokulturgeprägten Agrarlandschaften zugewanderten Tiere wissen die vielfältigen Strukturen einer Stadt mit ihren Parks, Gärten, Grünstreifen und Friedhöfen zu schätzen.
Es gibt Futter in Hülle und Fülle, genug Hecken zur Deckung und vielerorts lockere Böden, ideal zum Graben der unterirdischen Baue. Während auf dem Land die Wildkaninchenbestände schrumpften, siedelten beispielsweise in Berlin, Hamburg, München oder Frankfurt inzwischen große Populationen, erläutert die Biologin: „In der Stadt finden sie auf engstem Raum alles, was sie zum Leben brauchen.“
Kaninchenimporte nach Rom
Hinzu kommt, dass es in Städten immer einige Grad wärmer ist als auf dem Land. „Das kommt den Wildkaninchen, die von der iberischen Halbinsel stammen, entgegen“, sagt Ziege. Im heutigen Spanien und in Nordafrika hat die Art die letzte Eiszeit in fast unverändertem Zustand überdauert. Bereits im ersten Jahrhundert vor Christus importierten die Römer, die das zarte Fleisch der Tiere in der Küche schätzten, Wildkaninchen von Iberien nach Italien. Im Mittelalter, als das Fleisch neugeborener Wildkaninchen als Fastenspeise erlaubt war, hielt man sie in Klöstern und an den Höfen geistlicher Würdenträger. Im 16. Jahrhundert begannen schließlich französische Mönche mit der systematischen Zucht, und die Art avancierte zur Stammform aller Hauskaninchen.
In freier Wildbahn leben die geselligen Tiere in territorial streng abgegrenzten Kolonien von bis zu 20 erwachsenen Tieren in einem gemeinsamen Bau. Sie graben weitverzweigte, bis in drei Meter Tiefe reichende Höhlensysteme mit mehreren Wohnkesseln und Ein- und Ausgängen in alle Richtungen. Das unterscheidet sie von ihrem Verwandten, dem Feldhasen, der keine Höhlen gräbt. Auch äußerlich ähneln Wildkaninchen dem Hasen nur auf den ersten Blick. Sie sind deutlich kleiner, ihre Ohren und Hinterläufe kürzer und ihr Rumpf gedrungener. Das Fell ist glatt, an Rücken und Flanken grau bis graubraun, am Bauch weiß.
Kommunikation über Duftstoffe
In den Kolonien, die von je einem weiblichen und einem männlichen Tier dominiert werden, herrscht eine strenge Rangordnung. Während der Paarungszeit, die Ende Februar, Anfang März beginnt und die gesamte warme Jahreszeit andauert, kommt es unter den Männchen immer wieder zu Kämpfen. Die Weibchen bringen nach 30 Tagen Tragzeit fünf bis sechs Junge zur Welt und das bis zu siebenmal pro Jahr. Nach vier Wochen sind die Jungen von der Muttermilch entwöhnt, bleiben ein Jahr in der Kolonie und gehen dann ihre eigenen Wege.
Tagsüber halten sich die Tiere meist im Bau auf. Erst mit Einbruch der Dämmerung gehen sie auf Nahrungssuche. Dabei sind sie nicht wählerisch: Neben Gräsern, Kräutern und Trieben fressen sie auch Disteln oder Brennnesseln. In harten Wintern benagen sie die Rinde junger Bäume und beißen sogar fingerdicke Äste ab. Schwerverdauliche Pflanzenteile werden von Bakterien im Blinddarm fermentiert, wodurch ein weicher Kot aus unverdauter Nahrung und Bakterienbiomasse entsteht, den die Tiere sofort nach dem Ausscheiden erneut fressen. Unverdauliches wird dagegen als Hartkot ausgeschieden und bleibt liegen.
Auf dem Land richten Wildkaninchen dafür in der Nähe ihres Baus regelrechte Latrinen ein, die von allen Mitgliedern der Kolonie genutzt werden. Nicht nur für den Toilettengang: „Kaninchen kommunizieren vor allem über Duftstoffe in ihrem Urin.“ An den Duftstoffen ließen sich Geschlecht, Paarungsbereitschaft und sozialer Rang des jeweiligen Tieres ablesen, führt Ziege aus: „Das ist wie eine Visitenkarte.“
Feine Unterschiede von Stadt- und Landkaninchen
Die mit etwa drei bis vier erwachsenen Tieren deutlich kleineren Kolonien in der Stadt kommen dagegen ohne zentrale Kommunikationslatrine direkt am Bau klar. Und es gibt weitere Unterschiede im Verhalten: „Während Wildkaninchen auf dem Land dämmerungsaktiv sind, kann man sie in der Stadt auch tagsüber beobachten“, hat die Biologin festgestellt. Die Tiere hätten sich über Generationen so weit an das Stadtleben angepasst, dass sie sich von den Landpopulationen sogar genetisch unterschieden.
Genetische Unterschiede, an die Stadt angepasstes Verhalten und geringe Menschenscheu sollten jedoch nicht zu der Annahme verleiten, Stadtkaninchen seien zahm wie Haustiere. Auf Füttern oder Streicheln sollte man tunlichst verzichten. Wildkaninchen sind Wildtiere – auch in der Stadt.
Hartmut Netz (Naturschutz heute 3/24)
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