Wo die Murmeltiere pfeifen
Tagebuch zur Kirgisistan-Reise von Klemens Karkow
Kilometerweit kann man durch die kirgisische Steppe fahren, ohne auf eine einzige Menschenseele zu treffen. Nur Murmeltiere, Wildschafe und in felsigeren Regionen auch Steinböcke begegnen Reisenden gelegentlich in dieser abgelegenen Gegend. Manchmal dauert es Tage, bis man auf eine Hirten-Familie trifft, die ihre Jurte vor der malerischen Kulisse der Schnee bedeckten Vier- und Fünftausender aufgebaut hat.
Eine Gruppe von Fachleuten aus unterschiedlichen Bereichen installierte hier Fotofallen, die der NABU mit Hilfe von Spendengeldern gekauft hatte. Mit dabei im Experten-Trupp: der kirgisische Biologe Seitkasy Sagymbaev, Tolkunbek Asykulov, Leiter des NABU Kyrgyzstan, NABU-Wolfsexperte Markus Bathen, der seine Erfahrungen im Aufstellen von Fotofallen aus dem NABU-Wolfsprojekt in der Lausitz mitbrachte, das NABU-Ranger-Team „Gruppa Bars“, das Wilderern auf der Spur ist, die NABU-Schutzgebietsexpertin Raquel Nerger und der NABU-Naturfotograf Klemens Karkow, der die Expedition in das kirgisische Tien-Shan-Gebirge nicht nur fotografisch begleitete. Er berichtete auch auf der Facebook-Seite der NABU International Naturschutzstiftung und bedankte sich damit im Namen des NABU bei allen Spendern, die diese außergewöhnliche Reise erst möglich gemacht haben. Lesen Sie im Folgenden Auszüge aus seinem Tagebuch-Bericht:
1. Tag: 16. Mai
Schon an der ersten Kontrolle am Flughafen Berlin-Schönefeld müssen wir den mühsam verklebten Karton auspacken. Die über 500 Batterien sind der Stein des Anstoßes. In den Merkblättern finden die Sicherheitsbeamten, dass Lithium-Batterien seit kurzem nicht mehr als Gepäck aufgegeben werden dürfen und ins Handgepäck müssen. In Geräten sind sie jedoch erlaubt. Gut, dann füllen wir eben alle 18 Fotofallen mit den Batterien. Der Sicherheitschef hilft uns sogar dabei. Nach fast zwei Stunden sind wir endlich am Flieger und es kann losgehen. Der Rest der Anreise läuft reibungslos: umsteigen in Istanbul, Ankunft in Bischkek am nächsten Morgen um 04.20 Uhr. Hier werden wir bereits von Tolkunbek, dem Leiter des NABU in Kirgisistan, erwartet.
2. Tag: 17. Mai
Wir waren die ganze Nacht unterwegs und haben nicht geschlafen. So legen wir uns morgens um sechs erst einmal hin und schlafen bis um elf. Dann starten die Vorbereitungen für die Tour in die Berge. Das NABU-Ranger-Team, die „Gruppa Bars“ erledigt die letzten Einkäufe und wir sortieren unsere Ausrüstung. Am Nachmittag ist dann endlich der Aufbruch. Nach guten zwei Stunden erreichen wir den Eingang des Chon-Kemin-Nationalparks und werden von einer beeindruckenden Landschaft begrüßt. Die hohen Berge hängen allerdings in dicken Wolken. Kein gutes Vorzeichen, um im Lebensraum der Schneeleoparden herumzuklettern? Bei unserer Fahrt auf der Schotterpiste entlang des Chon-Kemin-Flusses werden wir von der Dunkelheit eingeholt. Unser Ziel in den Bergen ist noch zu weit entfernt und die Straße zu schlecht. So schlagen wir unser Zeltlager am Rande der Straße auf.
3. Tag: 18. Mai
Ein hektischer Aufbruch morgens um 7 Uhr mit beiden Autos. Wir wollen keine Zeit verlieren, um möglichst schnell unser Basislager zu erreichen. Die Fahrt zieht sich vier Stunden hin. Die Straße eignet sich nicht zum schnellen Fahren. An einer Schranke müssen wir uns für den oberen Teil des Chon-Kemin-Nationalparks anmelden. Der Mitarbeiter vom Nationalpark hat noch wertvolle Tipps für uns, wo die Fotofallen gut stehen können. Nach einer abenteuerlichen Fahrt kommen die Autos nicht mehr weiter. Wir schlagen auf 2.800 Meter Höhe unser erstes Basislager auf. Zum „Frühstück“ gibt es Instant-Nudeln aus der Tüte. Dann starten wir mit Fotofallen und Kameraausrüstung im Gepäck in die Berge. Nach drei Stunden anstrengendem Aufstieg finden wir die erste gute Position für eine Fotofalle: eine steile Felswand an deren Fuß ein Wildwechsel verläuft. Deutlich erkennbar ist der ausgetretene Pfad, der am Felsen entlangläuft und sich gabelt. Hier könnten regelmäßig Steinböcke, Wildschafe und vielleicht auch einmal ein Schneeleopard vorbeikommen. Zwei weitere Fotofallen werden in diesem Seitental aufgestellt und gegen 20 Uhr sind wir von einem langen Tag zurück im Lager.
4. Tag: 19. Mai
Wir vermissen das gute Wetter vom Vortag. Die Wolken hängen tief. Markus bricht mit der Gruppa Bars früh auf, um die nächsten Fotofallen aufzustellen. Ich nutze den Vormittag, um die Umgebung mit der Fotoausrüstung zu erkunden und Landschaft, Pflanzen und Tiere festzuhalten. Gegen Mittag werden wir von starkem Regen überrascht und alle treffen sich durchnässt im Basislager wieder. Suppe und Tee helfen beim Warm werden. Unsere Abreise zum nächsten Basislager verschieben wir. Die Fahrt über die nassen Wiesen ist zu gefährlich. Dafür belohnt uns der Abend mit wunderbaren Wolkenstimmungen und schönem Licht.
5. Tag: 20. Mai
Morgen begrüßt uns die Landschaft mit einer feinen weißen Schneedecke. Dem schlechten Wetter folgen beeindruckende Wolkenspiele. Nach dem Frühstück ist der Schnee geschmolzen und wir können Richtung Tal fahren. Unser Ziel ist der Hochgebirgssee Yssykköl, denn wir möchten auch auf der Südseite des Gebirges Fotofallen anbringen. Nach zwei Stunden mühsamer Fahrt werden wir von einem Reiter überholt. Da merken wir erst, wie langsam wir mit den Autos unterwegs sind sind. Es stellt sich heraus, dass der Reiter Sergej heißt und ein Hirte ist, der vor einigen Jahren bei einem Schneeleoparden-Projekt mitgearbeitet hat. Er kennt gute Stellen in den Bergen, wo wir die Fotofallen aufstellen können, und lädt uns ein bei ihm zu übernachten. Sergej lebt mit Frau und Tochter unter ärmlichen Verhältnissen in einer Jurte. Wir sind gerührt von seiner Gastfreundschaft. Am nächsten Tag wird er uns ins Gebirge begleiten.
6. Tag: 21. Mai
Früh um 6.20 Uhr heißt es Aufstehen. Wir wollen früh starten und wieder hoch in die Berge. Nach einstündiger Anfahrt bleibt der 20 Jahre alte Geländewagen liegen. Durch die dünne Luft und die starke Steigung ist die Kühlung überfordert. Kurze Beratung und wir quetschen uns mit acht Personen in das Auto der Gruppa Bars. Die Wolken hängen tief, doch wir sind optimistisch und beginnen den anstrengenden Aufstieg. Eine halbe Stunde später laufen wir im Regen weiter. Bald sind Wanderschuhe und Hosen durchnässt. Immer noch keine Spur von großen Säugetieren? Doch, wir finden die Hinterlassenschaften von Wolf und Bär. Ob auch Schneeleoparden hier vorbeikommen? Die Fotofallen werden es uns später vielleicht erzählen. Wir wandern weiter, der Regen geht in Schnee über. Ans Umkehren denkt keiner, denn wir haben nur noch wenige Tage und viele Fotofallen im Gepäck. Mit dem rutschigen Schnee wird die weitere Tour zu einer abenteuerlichen Kletterei. Schließlich finden wir auf 3.300 Metern Höhe vier sehr Erfolg versprechende Plätze für unsere Kameras. Die Gruppa Bars wählt die geeigneten Orte jetzt eigenständig aus – Markus hält sich mehr und mehr zurück und gibt nur noch einige Tipps: Unsere Wildhüter haben viel gelernt und machen ihre Aufgabe gut.
7. Tag: 22. Mai
Brr, die Nacht war kalt. Auch heute geht es wieder früh los. Unser Ziel ist das „Kaputte Tal“ etwas weiter westlich von unserem gestrigen Standort. Zuerst plagt uns jedoch das „kaputte“ Auto. Mehrmals halten wir an und legen Schnee auf die heiße Kühlung. Endlich haben wir es geschafft und wieder bietet sich eine beeindruckende Landschaft. Eine gewaltige Abbruchkante hat den Namen des Tals geprägt. Ein kleiner Fluss nagt am Fuße des Hanges, und ununterbrochen rieselt Sand von den steilen Hängen. Hier lassen sich geologische Veränderungen live beobachten! Wir steigen wieder auf in die Felsen. Die Gruppa Bars findet weitere gute Stellen für die Kamerafallen. Am frühen Nachmittag sind wir zurück im Lager. Es ist wieder angenehm sonnig. Später nutze ich noch das warme Abendlicht für Fotos in der Umgebung.
8. Tag: 23. Mai
Unsere Reise neigt sich dem Ende entgegen und wir wollen noch das NABU-Rehazentrum mit den Schneeleoparden besuchen. In den Bergen hat sich uns kein größeres Säugetier gezeigt. Nur die Murmeltiere haben unsere Wanderungen mit ihren Pfiffen fast die ganze Zeit begleitet. Die Gruppa Bars bleibt noch ein paar Tage im Gebiet, um Wilderer aufzuspüren. Wir dagegen sitzen wieder im Auto und fahren immer entlang des rauschenden Chon-Kemin-Flusses ins Tal. Dann erblicken wir den Yssykköl. Der See ist wirklich groß! Im Hintergrund türmen sich die schneebedeckten Vier- und Fünftausender. Wir stoppen noch kurz bei den berühmten Steinzeichnungen von Tscholpon-Ata – ein großes Steinfeld mit 4000 Jahre alten Zeichnungen. Der berühmteste Stein zeigt auch Schneeleoparden. Am späten Nachmittag treffen wir im Rehazentrum in Ananyevo ein und werden herzlich vom Leiter Viktor Kulagin begrüßt. Wir können es kaum erwarten, zum großen Freigehege zu gehen, das hinter dem nächsten Hügel liegt. Und da sehen wir sie endlich: unsere Schneeleoparden.
9. Tag: 24. Mai
Morgens sind die Schneeleoparden am aktivsten, bevor sie sich für die wärmeren Stunden des Tages zurückziehen. Und so stehen wir pünktlich um fünf mit Kamera und Teleobjektiv im Unterstand. Es ist noch dämmerig und kaum Licht für Fotos. Doch es kommt schon Bewegung in die Tiere. Es gelingen ein paar Fotos, bevor dann gegen sechs Uhr schon wieder Ruhe einkehrt. Nach einem guten Frühstück verabschieden wir uns von den Wächtern – auf die Schneeleoparden muss Tag und Nacht ein wachsames Auge gerichtet sein – und von Kulagin. Die Tage vergingen viel zu schnell, doch wir müssen zurück. Erfüllt von den vielen Eindrücken sind wir dankbar für die intensive und tolle Zeit. Wir hoffen, dass wir durch unseren Besuch das Projekt zur Rettung der Schneeleoparden einen kleinen aber wichtigen Schritt voranbringen konnten. Mit Spannung erwarten wir nun die Bilder aus den Fotofallen.
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