Braunkehlchen - Foto: Jürgen Podgorski/www.naturgucker.de
Insektenreiche Wiesen dringend gesucht
Der Vogel des Jahres 2023 im Porträt
„Es lässt sich nicht verkennen, dass die Wiesenschmätzer langweiliger sind als andere Arten der Familie; immerhin aber gehören sie zu den muntersten, bewegungslustigsten, unruhigsten und hurtigsten Vögeln unseres Vaterlandes.“ So steht es im Klassiker „Brehms Tierleben“. Und jetzt ist es unsere Aufgabe, den Vogel des Jahres 2023, das Braunkehlchen, doch spannend zu machen.
Bei der diesjährigen öffentlichen Vogelwahl entfielen 43,5 Prozent der Stimmen auf den 12 bis 14 Zentimeter kleinen und 15 bis 24 Gramm leichten Vogel – damit lag er sehr deutlich vorne in der Gunst der Wähler*innen. Ob ein Mitleidsbonus bei diesem Ergebnis eine Rolle gespielt hat? Möglich wäre es, ist das Braunkehlchen doch stark gefährdet und steht fast in ganz Europa auf der Roten Liste. Seine Bestandszahlen sind auch in Deutschland jährlich rückläufig.
Nur echt mit weißer Augenbinde
Auch wenn der kleine Vogel nicht mit auffälligem Gefieder punkten kann, ist er dennoch sehr hübsch anzusehen. Er trägt eine Augenbinde, einen sogenannten Überaugenstreif. Diese weiße Binde hat ihm unter Ornithologen den Kosenamen „Wiesenclown“ eingebracht. Die Kehle und die Brust sind orangebraun gefärbt, der Rücken ist braun mit dunklen Flecken. Die Weibchen sind wie bei fast allen Vogelarten etwas dezenter, heißt bräunlicher, gefärbt. Fliegen Braunkehlchen auf, blitzt die weiße Schwanzbasis hervor.
Häufig verweilen die zierlichen Vögel auf einem Zaunpfahl, einer hohen Staude, einer Distel oder einem Schilfhalm und starten von hier aus ihre Jagdflüge. Ruhig sitzen sieht man sie selten, ähnlich wie Rotkehlchen „knicksen“ sie oft und wippen mit dem Schwanz. Das ändert sich, wenn ein Greifvogel am Himmel auftaucht. Mit einem Trick versucht das Braunkehlchen dann, sich durch Erstarren in gestreckter Haltung unsichtbar zu machen: Es nimmt eine sogenannte „Pfahlstellung“ ein und hofft – derart unbeweglich und farblich mit der Umgebung verschmolzen –, von Bussard, Rotmilan und Co. übersehen zu werden.
Winterquartier tropisches Afrika
Umso mehr in Bewegung sind die Braunkehlchen während des Vogelzugs. Sie verbringen die kalte Jahreszeit im tropischen Afrika, in den Savannen und Grasländern südlich der Sahara, und sind daher Langstreckenzieher. Mehr als 5.000 Kilometer haben sie hinter sich, wenn sie im April zurück aus dem Winterquartier nach Deutschland kommen. Wie viele andere Zugvögel auch fliegen Braunkehlchen nachts, tagsüber suchen sie nach Nahrung oder ruhen sich aus.
Bei uns angekommen halten sie nach blütenreichen Wiesen und Brachen Ausschau, um hier in Bodennestern zu brüten. Solche Landschaftsformen verschwinden jedoch immer mehr, weshalb der Bestand seit Jahrzehnten weiter abnimmt.
Im Nordosten fühlt sich das Braunkehlchen wohl
Das Braunkehlchen ist ein echter Europäer. Mehr als 75 Prozent der Weltpopulation leben auf unserem Kontinent. Das sind schätzungsweise 5,4 bis vielleicht sogar 10 Millionen Brutpaare, wovon mehr als die Hälfte in Skandinavien und Russland – dem Kerngebiet der Verbreitung dieser Art – vorkommt. Der Bestand in Deutschland bewegt sich zwischen 19.500 und 35.000 Paaren, die meisten davon sind in Mecklenburg-Vorpommern zu finden. Aber grundsätzlich kommt es fast überall in Deutschland vor, da es sich sowohl im Tiefland als auch im Mittelgebirge wohlfühlt. Sogar auf dem Tempelhofer Feld mitten in Berlin wurden schon brütende Braunkehlchen gesichtet.
Nach seiner Ankunft im Brutgebiet im April besetzt der kleine Vogel sein Revier und beginnt mit dem Nestbau. Dafür nutzt er Moos, Gräser und Halme – eben alles an Material, was auf einer Wiese zu finden ist. Die runde, weich gepolsterte Kinderstube wird möglichst gut am Boden verborgen – Tarnung ist bei einem Bodenbrüter wie dem Braunkehlchen alles. Eine ausgeprägte dichte Krautschicht ist dafür ideal und bietet zudem auch Nahrung direkt „vor der Haustür“.
Im Mai legt das Weibchen vier bis acht blaugrüne Eier, die es allein ausbrütet. Nach etwa zwei Wochen Brutzeit schlüpfen die Jungen. Im Alter von 17 bis 19 Tagen klettert der Nachwuchs aus dem Nest. Bis sie fliegen können, verstecken sie sich die jungen Braunkehlchen in der Nähe des Nestes, zu dem die Eltern immer wieder mit Futter kommen, um die Kleinen zu versorgen.
Vom Zaunpfahl aus auf Insektenjagd
Damit der Tisch für Nachwuchs und Eltern immer reich gedeckt ist, müssen Wiesen arten- und strukturreich sein. Denn Braunkehlchen fressen die kleineren Bewohner solcher Lebensräume: Insekten und deren Larven, Spinnen, Würmer und kleine Schnecken, die sie von den bereits erwähnten Ansitzwarten aus jagen. Von diesem Ausguck hat das Braunkehlchen die Übersicht über die nähere Umgebung und lauert auf Beute, die es dann im Flug erschnappt.
Im Sommer und Herbst ergänzen gerne auch mal Beeren den Speiseplan des munteren Wiesenclowns. Doch schon im September heißt es für unseren neuen Jahresvogel Abschied nehmen von seiner Wiese, dann macht er sich wieder auf die große Reise nach Afrika.
Silvia Teich
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