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Jetzt Informieren!Drum singe, wem Gesang gegeben...
Das Rotkehlchen im Porträt
Das Rotkehlchen atmet unsere Abgase, hat ein Ozonloch über sich und muss in saurem Regenwasser baden. Die Frage „Was kann man tun, um ihm zu helfen?“ wird also diesmal nicht zu verstärktem Anlegen von Feuchtwiesen und Hecken führen. Dennoch kann die Neupflanzung des einen oder anderen Busches nicht schaden. Am besten wäre gleich ein kleines „Unterholz“ im eigenen Garten. Denn je naturnäher es dort zugeht, desto eher wird auch die (G)artenliste um ein Rotkehlchen anwachsen. In größeren Gärten kann es sogar brüten. Hingegen meidet es selbst ausgedehnte Schrebergartensiedlungen, wenn dort allzu pedantisch gegen jede Form von Wildwuchs vorgegangen wird. Auf Friedhöfen fühlt es sich meist ebenfalls nicht sonderlich gut aufgehoben.
Dass der Jahresvogel 1992 ein häufig vorkommender Vogel ist, ist naturschützerisch gesehen geradezu interessant. So wird man auf die Probleme aufmerksam, die auch mit häufigen Vögeln verbunden sind. Gibt es nun 2,5 Millionen Rotkehlchenpaare in Deutschland oder 6,5 Millionen? Über diese Wissenslücke wird in diesem Jahr hoffentlich fruchtbar gerätselt, denn dies ist kein reines Zahlenspiel. Auch häufige Vogelarten können als „Indikatorvögel“ genutzt werden und die Verfassung der Lebewelt charakterisieren. Eine starke Vermehrung kann sogar ein warnendes Zeichen sein. Doch es ist zu wenig bekannt, um gedeutet zu werden.
Rotkehlchenlöcher durch sauren Regen?
Im Allgemeinen nimmt die Zahl der Rotkehlchen eher zu. Im Harz aber gähnen einige Rotkehlchen-Löcher. Anderswo gibt es vermutlich weitere solcher Löcher, denn sie werden offensichtlich durch sauren Regen verursacht. Prof. Hans Oelke untersuchte die Auswirkungen des Saure-Regen-Syndroms auf Vogelbestände im Harz. Glücklicherweise hatte er 1972 bereits unwissentlich seine eigene Vorarbeit geleistet und akkurat Vogelbestände registriert. Nach dem Auftreten heftiger Waldschäden zählte er 1987 erneut. Auf keiner der Probeflächen war mehr ein Rotkehlchen zu bemerken, obwohl sie 1972 noch eine Dominanz von 12,3 Prozent gehabt hatten.
Oelke zieht daraus den eindeutigen Schluss, dass die Rotkehlchen in größerem Rahmen überwacht werden sollten. Sie gehören zu den Arten, an denen das Waldsterben am besten abzulesen ist. Das liegt vermutlich daran, dass Rotkehlchen ganz entscheidend auf die Struktur des Waldbodens angewiesen sind. So entdeckte der britische Ornithologe Rus Hoelzel erst kürzlich, dass für den Bruterfolg von Rotkehlchen nicht die Größe ihrer Reviere entscheidend ist, sondern die Beschaffenheit des Bodenbewuchses.
Die Stimme kenne ich doch...
Ein Rotkehlchenjahr ist auch äußerst günstig, um interessierte Laien zu Avifaunisten und Ornithologen werden zu lassen. Wie leicht kann gerade beim Rotkehlchen eine Entdeckung ein Spaziergang sein und umgekehrt. Denn neue Erkenntnisse sind noch immer sehr einfach zu haben. Erst vor wenigen Monaten präsentierte die Ornithologin Emma Brindley aus Nottingham ein beachtliches Ergebnis, das jeder Tonbandbesitzer schon vor ihr hätte erzielen können. Sie zeigte, dass ein Rotkehlchen seine Nachbarn an der Stimme erkennt. Dazu spielte sie einem Revierbesitzer verschiedene Rotkehlchenstimmen vor. Auf solche mutmaßlichen Eindringlinge reagieren Rotkehlchen mit heftigem Gegengesang. Wurde jedoch die Stimme des Nachbarn abgespielt, so war die Reaktion viel gemäßigter. Das ist auch sinnvoll, denn mit seinem Nächsten war der Besitzer schon in etwa einig, was auch viele Verhaltensbeobachtungen zeigen. Nicht jedoch, wenn die Stimme des Nachbarn plötzlich von der „falschen“ Seite kam, wo ein anderes Revier lag. Bei solcher Unzuverlässigkeit erhielt er dieselbe Portion Abwehr-Rabatz wie jedes fremde Rotkehlchen.
Hielt sich die Nachbarstimme aber an die Revier-Abmachungen, so konnte sie sogar eher „ausreden“ als eine fremde. Der Revierbesitzer fiel den Fremdstimmen eher in den Gesang als seinem Nachbarn. Diese Entdeckungen waren ein schöner Erfolg für Frau Brindley. Vielleicht war sie ja vom Geiste Robin (= Rotkehlchen) Hoods inspiriert und hatte ihre Experimente gar im Sherwood Forest nahe ihrer Universitätsstadt Nottingham gemacht.
Rotkehlchenbeobachtung kann auch ohne Tonband gelingen. Das Rotkehlchen ist berühmt für seine in Europa einmalige Unerschrockenheit. Bis auf einen Meter gesellt es sich auch völlig fremden Menschen zu. Doch es ist vermutlich nicht das Faszinosum Homo sapiens, welches die Aufmerksamkeit des großäugigen Vögleins erregt. Vielmehr hält es aktiv Ausschau nach großen Tieren, weil diese für gewöhnlich nicht nur viel Staub, sondern auch einige Insekten aufwirbeln, die dann vertilgt werden können. Rotkehlchenexperte Rudolf Pätzold vermutet sogar, dass bereits die jungen Rotkehlchen von ihren Eltern mit den Vorzügen großer Tiere vertraut gemacht und an diese herangeführt werden.
Kommen sie ruhig näher
So können umgekehrt auch Menschen erfolgreich nähertreten. Pätzold gelang es sogar einmal, ohne jedes Versteck einen Nestbau aus neun Meter, ein andermal aus drei Meter Entfernung mitzuverfolgen. Dabei sind Rotkehlchen in dieser Situation eigentlich am heikelsten und können sogar irreführen. Denn wenn das Weibchen mit einem neuen Materialtransport herbei hüpft, wobei es oft soviel Blätter im Schnabel hat, dass es dahinter selbst kaum noch zu sehen ist, dann achtet es durchaus auf fremde Späherblicke. Fühlt es sich beobachtet, so kann es sein, dass es so tut als wäre das Nest ganz woanders. Es trägt dann das Material erst einmal dort hin und kommt erst später, dicht am Boden jede Deckung nutzend, zu seinem tatsächlichen Nistplatz zurück.
Pätzold berichtet jedoch auch von weniger scheuen Rotkehlchen. Ihre Nester entstanden in einem Flugzeug und mit erfolgreicher Brut in einem fahrenden Eisenbahnwagen. Einmal soll gar ein Gärtner seinen Mantel um 9.15 Uhr abgehängt und um 13 Uhr ein fast fertiges Rotkehlchennest in seiner Tasche vorgefunden haben. Ein weiteres dieser Tiere bekam zu Brutzwecken ein Menschenbett zugestanden. Während der Bettbesitzer beim Frühstück war, hatte es darin mit dem Nestbau begonnen. Als der Eigentümer zurückkam, sah er sich vor vollendeten Tatsachen und schlief bis zum Ausfliegen der Jungen woanders.
Hausbau ist Frauensache
Üblicherweise bleiben die Rotkehlchen beim Nestbau jedoch auf dem Waldboden der Tatsachen. Die napfartige Nestform lässt ahnen, dass Rotkehlchen zu den Drosselvögeln gehören. Anpassungsfähig, wie sie sind, können sie ihre „Aufzuchtstationen“ aus Moos, Halmen und Wurzeln aber auch an leicht erhöhten Plätzen in Nischen und kleinen Höhlen Bauen. Manchmal wird sogar noch ein kleines Blätterdach darüber errichtet. Konstrukteur und einziger Bauarbeiter ist das Weibchen. Es soll jedoch auch schon Männchen gegeben haben, die Nistmaterial in den Schnabel nahmen. Doch ebenso schnell wie dem hierüber erstaunten Beobachter der Kiefer nach unten klappt, lässt auch das Männchen derlei Stoff wieder aus dem Schnabel fallen.
Rotkehlchen sind zähe Brüter. Bis zu fünf Wochen bleiben sie auf den Eiern sitzen, wenn aus irgendeinem Grund die Küken nicht schlüpfen, obwohl normalerweise schon nach 12 bis 15 Tagen die Schalen knacken. Dem Nachwuchs wird beim Weg aus dem Ei geholfen. Die Vogelmutter nimmt nicht nur die Schalen ab, sondern trägt sie auch noch Dutzende von Metern weit fort, weil sie im Nest zu auffällig wären. Tarnung ist Trumpf. Beim Nestbau ist Tarnung sogar wichtiger als Wärmeisolierung, da der Bruterfolg so eher steigt. Denn in manchen Regionen interessiert sich der Kuckuck sehr für solche Unterbringungsmöglichkeiten. Noch gefährlicher sind Mäuse, Ratten, Wiesel, Eichhörnchen, Eichelhähern und andere Nesträuber. Doch dank guter Geheimhaltung wird aus mehr als jedem zweiten Ei ein Junges flügge.
Kinderreichtum ist auch vonnöten, denn Rotkehlchen haben ein kurzes Leben. Normalerweise dauert es nur bis zum nächsten Herbst. Es gibt aber auch Rotkehlchen, die zehn Jahre alt geworden sind. Bei solcher Sterblichkeit ist der nötige Nachwuchs mit nur einer Brut nicht zu bekommen. Zweimal im Jahr muss sich eine Bodenmulde mit den weißlichen, rostbraun punktierten Eiern füllen. Meist entringt sich die Mutter vier bis fünf Stück davon, die sehr einheitlich gemustert sind. Schlüpfen dann daraus einige Töchter, so legen diese im folgenden Jahr Eier, die dem Eimuster ihrer Mutter zum Verwechseln ähnlich sind. Wegen der Doppelbelastung durch zwei Bruten zieht sich die Brutzeit von Mitte April bis August hin. Nur das Weibchen brütet. Eines schönen Morgens schlüpfen dann die Jungen.
Auszug nach zwei Wochen
Beide Eltern füttern sie und entfernen auch die Kotsäcke aus dem Nest. Manchmal wird dieser Abfall sogar bis in das Revier fremder Rotkehlchen getragen, und erst dort fallengelassen. Erstaunlich geschlossen wird nach 13 bis 15 Tagen das Nest verlassen. 39 Bruten wurden beobachtet. Nie dauerte es länger als 18 Stunden, bis die komplette Nestbesatzung den Ausstieg geprobt hatte. Einmal allerdings war die Mutter nötig, um mit einem kleinen Schwung das letzte Nesthäkchen zum Aufbruch zu bewegen. Auch außerhalb des Nestes sind die Jungen noch nicht nahrungs-erwerbsfähig. Frühestens am achten Tag sind sie soweit. Die Jugend verstreut sich zuweilen übers ganze Revier. Sie kann aber auch als Gruppe auftreten. Nicht selten kommt es auch zur Aufteilung des Nachwuchses. Dann übernimmt der Vater den einen Teil, die Mutter den anderen. Doch wenn noch eine zweite Brut fällig ist, überlässt das Weibchen die weitere Versorgung dem Männchen und beginnt umgehend mit dem Bau eines zweiten Nestes. Bei so kooperativem Betrieb im Rotkehlchenrevier ist es nicht verwunderlich, dass Rotkehlchen sehr kommunikative Vögel sind. Schon die Jungen können einander gegenseitig warnen. Wenn die älteren ein Not-Zischen ausstoßen, verlassen die jüngeren das Nest.
Singe wem Gesang gegeben. Und das ist er dem Rotkehlchen reichlich. Das ganze Jahr über kann man sie hören, vor allem die Männchen zwischen März und Mai. Es gibt auch keine Tageszeit, zu der sie immer schweigen würden. Sie gehören unter anderen mit der Nachtigall zur Gruppe der Erdsänger. Doch auch zum Unter-der-Erde-Sänger ist schon ein Rotkehlchen geworden, das in ein Bergwerk geriet. In völliger Dunkelheit sang es dort. Wird es bei der Beringungsprozedur in einen dunklen Beutel getan, so kann es selbst dort zu singen beginnen. Ebenso manchmal mitten in der Nacht. Rudolf Pätzold konnte einmal die Reaktion von Rotkehlchen auf eine Sonnenfinsternis erleben: Gesang. Vermutlich hielten die Rotkehlchen den Abend für gekommen. Sie singen schon etwa eine Stunde vor Sonnenaufgang und noch eine gute Zeit nach Sonnenuntergang.
Dies dürfte auch ein Grund für ihre großen Augen sein. Für ihre Dämmerungs- und Mondscheinaktivitäten müssen sie viel Licht einfangen. Pätzold sah ein Rotkehlchen um 5.04 Uhr im Mondlicht sein Nest bauen. Auch an künstlichen Lichtquellen, an Straßenlampen und Fenstern kann es Nachts auf Insektenjagd gehen. Ihr Gesang ist sehr vielfältig. Bei einem Rotkehlchen wurden nicht weniger als 275 Motive nachgewiesen, obwohl diese schwer zu fassen sind, da sie fortlaufend geändert werden.
Das Grundprinzip aber ist einfach: Melancholie. Eine Strophe von 2,5 Sekunden beginnt normalerweise tief, strebt auf und endet wieder tief. In diesem Wehmut aber wird gespottet. Schon als Jungvögel beginnen die Rotkehlchen andere Vögel zu imitieren. Meisen, Buchfink, Zilpzalp, Fitis, Goldammer und sogar der Überschlag der Mönchsgrasmücke klingen in dem kleinen Erdsänger mit.
Revierverteidigungs-Gesang und Anrufung der Weiblichkeit lassen sich unterscheiden. Gesang ohne „Anlass“ richtet sich an etwaig vorüberziehende Weibchen. Das geht daraus hervor, dass er sehr abrupt nachlässt, wenn eine Verpaarung zustande kam. Kommt es aber gleich darauf wieder zur Trennung, so kann innerhalb von Stunden der Gesang in alter Stärke wieder ertönen. Revieranzeige-Gesang hingegen wird in aller Regel durch einen Eindringling ausgelöst. Diese Weisen sind geringfügig höher und kürzer als normal.
Beide Geschlechter singen
Auch das Weibchen kann singen. Es singt zwar sehr ähnlich wie das Männchen, aber leiser und seltener. Einige Singvogelweibchen beginnen nach dem Wegzug in Afrika zu singen, weil sie dort ihr eigenes Revier gründen. Rotkehlchenweibchen nehmen sich jedoch zuweilen ein Winterrevier nahe ihrem Brutplatz und verteidigen es mit stärker werdendem Gesang. Dieses Phänomen wurde nun auch hormonell untersucht. Wie „männlich“ geht es in den Körpersäften der weiblichen Revierbesitzer zu? Die Biologin Eva Kriner neutralisierte die Männlichkeitshormone der Revierbesitzerinnen. Trotzdem blieben diese aggressiv. Der Gesang aber wurde durch die „Entmannung“ verhindert. Außer ihrem Gesang haben Rotkehlchen noch zahlreiche Rufe für die verschiedensten Zwecke. Sie ähneln sich meist recht stark und beginnen im Munde menschlicher Imitatoren mit „zi...“. Am bekanntesten ist das „Schnickern“, bei dem eine Reihe von „zik“-Elementen eine Störung kundtut.
Auch mit Menschen kann es so verkehren. Ein zahmes Rotkehlchenweibchen kann Bettelrufe an sie richten. Diese Rufe ergehen normalerweise an das Männchen, von dem Futter erwartet wird. Wird es ergriffen, so kann es einen trillernden Schreckruf fahren lassen. Schreitet ein Weibchen zur Fütterung der Nestlinge, so rühren sich diese zunächst nicht, egal wie sehr das Nest wackelt. Erst ein leise schnatternder Fütterruf löst das Aufsperren der Schnäbel aus. Die Nestlinge ihrerseits haben ab dem siebten Tag zwitschernde Bettellaute.
Unter ausgewachsenen Vögeln sollen Stimmfühlungslaute den Kontakt aufrecht erhalten. Dazu gibt es das „dib“. In Gruppen ziehender Vögel ist eher „trietsch“ der gute Umgangston. Gesang dient nicht nur zur Revierbesitz-Anzeige, er ist auch die Hauptwaffe, mit der um diesen Besitz gekämpft wird. Zwar gibt es den Fall eines Rotkehlchens, das 80 Sekunden nach seinem Eindringen in ein fremdes Revier schon getötet war, aber in aller Regel eskaliert die Gewalt nur langsam. Zunächst gibt es den Sängerkrieg, bei dem die Kontrahenten mitunter mit 100 Dezibel die Heavy-metal-Lautstärke einer Schmiedewerkstatt erreichen. Schon da kann der Revierbesitzer merken, dass er den Kürzeren ziehen wird. Dann hört er auf zu singen, treibt sich noch ein Weilchen stumm in seinem verlorenen Reich herum und zieht schließlich ab. Erst wenn keiner nachgeben will, verkrallen sich die Widersacher ineinander und versuchen den Gegner am Boden festzuhalten und ihm die Augen auszuhacken. Solche Konflikte können manchmal Stunden dauern, obwohl im Normalfall nach 30 Minuten alles entschieden ist.
Rot macht aggressiv
Nicht nur fremder Gesang wirkt erregend. Auch das orangerote Gefieder zwischen Stirn und Hinterbrust löst Aggressionen aus. Karminrote Federn lassen ein Rotkehlchen kalt, aber wenn ein Vogelkundler wie der Brite Mead einen orangeroten Bart hat, dann wird auch er attackiert. Die Aggressivität kann aber von Region zu Region schwanken. Außerdem zeigen sich Rotkehlchen relativ tolerant, wenn ein Eindringling nur Nahrung sucht. Im Winter kann ein Revierbesitzer sich sogar einer Gruppe von Rotkehlchen anschließen, die auf seinem Land einem wühlenden Schwein folgt.
In England wurde festgestellt, dass es mehr Rotkehlchenmännchen als Weibchen gibt. Etwa 20 Prozent der Männchen bleiben ohne Partner. Viele gründen auch gar kein Revier. Diese Unterprivilegierten haben oft gemeinsame Schlafplätze. Tief im Gebüsch sitzen dann meist wenige, manchmal aber bis zu 35 Rotkehlchen dicht beieinander. Doch in einigen Fällen besteht die Schlafgemeinschaft auch aus Revierinhabern. Dann geht die Gruppe allmorgendlich lange vor Sonnenaufgang mit Radau auseinander und fliegt manchmal kilometerweit in ihre Reviere zurück. Bei der Verteidigung der Reviere helfen oft auch die Weibchen mit. Weibchen und Männchen halten gut zusammen, obwohl sie im Grunde eine so genannte Ortsehe führen. Sie kommen also zusammen, weil es sie zufälligerweise gerade zu demselben Ort hingezogen hat.
Meist gibt ein Weibchen sein Herbstrevier auf, und ist schon einen Tag später mit einem ihrer Nachbarn verpaart. Das kann bereits im Januar passieren. Nicht selten sucht aber ein Weibchen aktiv einen weiter entfernten Partner. Es kommt auch regelmäßig vor, dass Weibchen und Männchen nach wenigen Tagen bis Wochen wieder auseinander gehen. Immerhin muss ja das Männchen den Schock einer weiteren roten Brust in seinem Revier überwinden. Zuweilen dauert es Tage, bis es nicht mehr vor seinem Weibchen ausreißt.
Sex erst beim Nestbau
Haben sich die beiden aneinander gewöhnt, so kommt erst einmal eine Zeit der gegenseitigen Nichtbeachtung, denn das Geschlechtsverhalten scheint mit dem Nestbau gekoppelt zu sein. Wenn die Zeit gekommen ist, gibt das Weibchen Bettelrufe von sich und wird auch vom Männchen gefüttert. Selbst Weibchen, die in einem vollen Futternapf stehen, richten solche Bettelrufe an ihre Männchen. Während des Nestbaus und der Eiablage fordert das Weibchen dann mit einem speziellen Ruf und in vorgeneigter Haltung flügelzitternd zur Kopulation auf. In diesen etwa zehn Tagen kommt es mehrmals zur Begattung. Sobald das Weibchen brütet, wird es vom Männchen versorgt. Meist kommt das Männchen dazu mit vollem Schnabel in Nestnähe und stößt einen speziellen Ruf aus. Daraufhin verlässt das Weibchen kurz die Brutstätte und holt sich seinen Teil.
Die Insektenjagd findet meist am Waldboden statt. Das Rotkehlchen sitzt auf einem Ast bis zu sechs Meter über dem Boden. Auf eine Entfernung von acht Metern kann es noch einen Mehlwurm am Boden entdecken. Sofort stürzt es sich auf die Beute und fliegt zum Verzehr damit wieder auf einen Ast. Es gibt aber auch die aktive Suche am Boden. Dabei wird so manches abgefallene Blatt gewendet. Normalerweise bewegt sich das Rotkehlchen hüpfend, nur ausnahmsweise macht es auch mal einen bis drei kleine Schritte. Im Herbst frisst es auch Beeren. Schlagzeilen machte eine andere Form der Nahrungssuche. Es kommt vor, dass die Rotkehlchenjagd an einen Eisvogel erinnert. Abgesicherte Berichte und auch Fotos zeugen von Rotkehlchen, die sturztauchen und dabei manchmal sogar erfolgreich fischen. Das ist auch keineswegs abwegig, denn Rotkehlchen gehören zu den Vögeln, die ohne weiteres ins Wasser gehen. Zum einen jagen sie in seichten Gewässern nach Wasserinsekten und kleinen Fischen, zum anderen baden sie passioniert. Rudolf Pätzold schildert es:
„Etwa einen halben Meter vor der Wasseroberfläche fällt der Vogel auf den Boden ein und hüpft bis ans Ufer. Mit den Füßen noch im Trocknen, benetzt er sich zwei bis drei Mal Kopf und Brust und bewegt sich danach bis zu einer Tiefe von vier bis sechs Zentimetern ins Wasser. Jetzt wird der Kopf bis zu zwölf Mal tief eingetaucht und gleichzeitig die Wasserfläche mit den Flügeln gepeitscht, so dass die aufspritzende Fontäne den Badenden fast unsichtbar macht. Nach 20 bis 30 Sekunden hüpft der Vogel für wenige Augenblicke an Land und wiederholt danach dieses Plantschen noch drei bis vier Mal. Insgesamt ist das Bad nach etwa drei Minuten beendet. Der Vogel fliegt dann auf einen nahen Busch oder Baum, putzt sich vier bis sechs Minuten und streicht ab.“
Tägliches Bad
Rotkehlchen baden jeden Tag, meist am Abend. Der Tod durch Ertrinken ist dabei nicht selten. Am Morgen wird meist noch zusätzlich in Tau gebadet. Selbst im Winter baden sie notfalls auf Eis. Ein Rotkehlchen wurde einmal von einem Raubwürger erwischt, nur weil sein Gefieder vom Bad vereist war. Normalerweise ist sein Hauptfeind der Sperber.
Eine weitere Todesursache ist menschlicher Natur. Das Rotkehlchenjahr gibt Anlass, gegen die Singvogeljagd in manchen europäischen Ländern vorzugehen. Zwar ist der Bestand der Rotkehlchen dadurch keineswegs bedroht, ihre Opfer sind dennoch zahlreich. Man sollte dabei jedoch nicht vergessen, dass auch im eigenen Land Massen von Zugvögeln erlegt werden, auch wenn es keine Singvögel sind, sondern Gänse.
Als Zugvogel ist das Rotkehlchen berühmt. An ihm entdeckte Wolfgang Wiltschko den Magnetkompass. Auch bei bedecktem Nachthimmel kann das Rotkehlchen damit ans Ziel gelangen. Seither wurde bei allen untersuchten Zugvögeln dieselbe Art Kompass entdeckt. In welchem Körperorgan sitzt dieser Kompass? Neueste Forschungen ergaben, dass im optischen System ein Rezeptor für Richtungsänderungen des magnetischen Feldes existiert, im nasalen System werden hingegen Änderungen der Feldstärke wahrgenommen, auch wenn sie nur hundert Gramm betragen.
Warum in den Süden ziehen?
Ein weiteres Phänomen lässt sich am Rotkehlchen gut erforschen, denn es ist ein typischer Teilzieher. Ein Teil unserer Rotkehlchen fliegt ins westliche Mittelmeergebiet, ein anderer Teil bleibt im Winter uns erhalten. Die Gretchenfrage lautet nun: Warum? Ist es vielleicht egal; sind die Gefahren des Nordwinters gleich groß wie die des Zuges? Oder ziehen diejenigen Tiere ab, die kein ordentliches Revier gefunden haben?
In Nordbelgien wurde nun festgestellt, dass vor allem die Weibchen nach Süden ziehen. Außerdem überlebten die „standhaft“ verbleibenden Männchen selbst im äußerst kalten Winter 1984/85 genauso gut wie die ziehenden Männchen. Bei der Verpaarung hatten die Heimkehrer dann das Nachsehen. Sie fanden nur halb so oft ein Weibchen wie die ortsfesten Überwinterer. Ein guter Teil des Zugverhaltens ist jedoch erblich vorfixiert. Auch unter gleichen Bedingungen in der Voliere zeigen einige Rotkehlchen im Herbst, dass sie fort wollen, und andere nicht.
Lutz Dröscher
aus: Naturschutz heute, Ausgabe 1/1992
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