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Warum es bei der Naturbeobachtung keine absoluten Wahrheiten gibt
Naturbeobachtung macht Spaß. Die Freude ist nochmal so groß, wenn man die Beobachtungen mit anderen teilen kann. Kein Wunder also, dass in Deutschland inzwischen Zehntausende Naturbeobachtungsplattformen wie ornitho.de oder naturgucker.de nutzen – Tendenz stark steigend.
Der so entstehende riesige Datenbestand erweitert nicht nur unsere naturkundlichen Kenntnisse, er hilft auch bei Naturschutzmaßnahmen. Hierfür sollen die Daten möglichst „fehlerfrei“ sein. Und daher müssen nach Ansicht vieler Expert*innen alle Beobachtungen einer Plausibilisierung unterzogen werden.
Richtig oder falsch?
Doch Naturbeobachtungen sind im Grunde genommen Zeugenaussagen und damit empirisch nicht widerlegbare Behauptungen. Denn anders als Laborversuche können sie in der Regel nicht wiederholt werden. Für ihre Richtigkeit verbürgen sich stattdessen die Beobachter*innen. Ein Beispiel: In einen Vogelschwarm haben sich einzelne Individuen einer anderen Art gemischt, doch nach einer Stunde verlassen sie den Schwarm. Wer ihn dann beobachtet, wird nicht reproduzieren können, was andere Beobachter*innen zuvor gesehen haben.
Einschränkungen beim Sehen und Hören, fehlerhafte Technik oder schlechte Witterungsbedingungen können eine Fehlbestimmung begünstigen, weil nur lückenhafte Beobachtungsinformationen aufgenommen und dann vom Gehirn möglicherweise automatisch vervollständigt werden. Unser Gehirn ist zwar ein wunderbares Organ, aber kein exakt rechnender Computer und kein das unveränderte Original garantierender Datenspeicher wie eine DVD.
In Kürze
- Naturbeobachtungen sind keine naturwissenschaftlich exakten Daten, sondern „Zeugenaussagen“.
- Die Naturbeobachtungen anhaftenden Fehler werden systematisch unterschätzt.
- Die Möglichkeit der Nachprüfung einer einzelnen Naturbeobachtung wird systematisch überschätzt.
- Eine falsch durchgeführte Plausibilisierung kann Originaldaten manipulativ verändern.
- Ergebnis der Plausibilisierung ergibt kein „Richtig“ oder „Falsch“, sondern ein „Glaube ich“ oder „Glaube ich nicht“.
- Das Ergebnis ist wissens- und damit zeit- und personenabhängig.
Die Nachprüfung von Daten liefert deshalb streng genommen keine Aussage, ob eine Beobachtung richtig oder falsch ist. Möglich ist nur, die Glaubhaftigkeit im Kontext des jeweiligen Wissens zu einem bestimmten Zeitpunkt abzuschätzen.
Klingt fürchterlich theoretisch? Dann noch ein praktisches Beispiel: Mitte Juli beobachtet Stefan Munzinger an seinem Gartenteich in Northeim eine Libelle, die er als Kleine Moosjungfer identifiziert. Der Gründer von naturgucker.de geht bei der Bestimmung sorgfältig vor und hält sie auch im Foto fest. Ohne das Foto hätte Munzinger bei einer Plausibiliserung schlechte Karten: Die Moosjungfer kann als spezialisierte Hochmoorart mit Gartenteichen eigentlich gar nichts anfangen, die nächsten bekannten Vorkommen sind weit entfernt und der Beobachtungszeitpunkt liegt am Ende der aus der Literatur bekannten Flugzeit.
Halten Expert*innen eine solche Beobachtung für falsch oder unwahrscheinlich, werden sie sie „wegplausibilisieren“, also aus der Datenmenge ausschließen. Das kann bereits bei einer Eingangsprüfung in einem Portal passieren oder später, wenn jemand Daten zum Beispiel zur Verbreitung von seltenen Libellen auswerten möchte. Geschieht ein solches Wegplausibilisieren in den Originaldaten, werden diese unwiederbringlich verändert.
Bestätigung des Bekannten
Tatsächlich streifen Libellen oft sehr weit umher und tauchen so mitunter auch an ungewöhnlichen Stellen auf. Die Beobachtung dokumentiert also möglicherweise eine besondere Verhaltensweise des Libellenindividuums. „Plausibilisiert man solche Beobachtungen allesamt weg, erhält man immer nur die Bestätigung des bereits Bekannten“, betont Munzinger. „Somit kann das Ergebnis einer Plausibilisierung nur lauten: Diese Beobachtung halte ich jetzt für wahrscheinlich oder nicht. Und: Verschiedene Personen können durchaus zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen.“
Fehlerhafte Erinnerungen lassen sich sogar künstlich einpflanzen, das ist nachgewiesen. Spricht man etwa später mit jemandem über die eigenen Bekassinen-Sichtungen und diese*r sagt: „Ach was, das war sicher ein Brachvogel, der Schnabel war bestimmt gekrümmt“, kann leicht eine falsche Erinnerung an einen gebogenen Schnabel erzeugen. Die Gefahr ist umso größer, wenn man den*die Gesprächspartner*in noch dazu für eine*n Expert*in hält und die eigenen Kenntnisse als geringer einschätzt.
Fazit für die Praxis
Bei naturgucker.de hat man sich von Anfang an gegen einen zentralen Beobachtungs-TÜV entscheiden. Stattdessen existiert innerhalb der Nutzergemeinschaft ein reger Austausch und fragwürdig erscheinende Meldungen werden häufig in Form von Kommentaren diskutiert. Ein Eingriff in die Originaldaten bleibt tabu.
Fazit: Man sollte sich nicht von anderen, die vielleicht noch nicht einmal dabei waren, vorschreiben, was man angeblich gesehen oder nicht gesehen hat. Ein Mindestmaß an selbstkritischer Reflexion ist allerdings immer angebracht.
- Vertiefende Informationen zum Thema einschließlich Zugang zu drei ausführlichen Fachartikeln aus der Zeitschrift Naturschutz und Landschaftsplanung
naturgucker.de ist ein soziales Netzwerk für Naturbeobachtung und besteht bereits seit 2008. Hier können Pflanzen, Tiere und Pilze weltweit gemeldet werden – also nicht nur von zu Hause, sondern zum Beispiel auch aus dem Urlaub. Wegen dieses umfassenden Ansatzes ist der NABU Partner von naturgucker.de. Der Bundesverband, viele Landesverbände und Gruppen nutzen das Portal für ihre Arbeit. Gut 175.000 Beobachter*innen haben aktuell (September 2023) bereits mehr als 15,5 Millionen Beobachtungen hinterlegt sowie 3,1 Millionen Bilder und Videoclips hochgeladen.
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