Besonders dramatisch ist die Entwicklung beim Kiebitz: Aufgrund von Feuchtgrünlandverlust hat der Bestand in den letzten Jahren um 55 Prozent abgenommen.
Alarmsignal für Deutschlands Natur
Zustandsberichte zeigen graviernde Probleme bei Arten und Lebensräumen
26. März 2014 - Dramatischer als erwartet: Der NABU bewertet aktuelle Berichte der Bundesregierung zum Zustand der Natur in Deutschland als Alarmsignal. „Zahlreiche Vogelarten, die hierzulande einst weit verbreitet waren, sind akut gefährdet. Ihre Lebensräume verschwinden immer schneller“, sagt NABU-Präsident Olaf Tschimpke.
„Verlierer“: Abnehmende Bestandsentwicklung in den letzten zwölf Jahren
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Ebensfalls bei der Bekassine – dem Vogel des Jahres 2013 – ...
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... und der Uferschnepfe ist der Bestand durch den immensen Verlust von Feuchtgrünland zusammengebrochen. Bei beiden Arten sind 65 Prozent der Tiere verschwunden.
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Bei der Turteltaube lässt sich die Bestandsabnahme (um 48 Prozent) durch Lebensraumverschlechterung in der Agrarlandschaft und Probleme auf dem Zugweg zurückführen.
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Auch die Feldlerche muss unter der Verschlechterung des Lebensraums in der Agrarlandschaft leiden. Der Bestand ist um 32 Prozent geschrumpft.
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Der Baumpieper hat nicht nur Probleme auf seinem Zugweg, sondern leidet auch unter dem Klimawandel. Dadurch ist hat der Bestand um 39 Prozent abgenommen.
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Durch die Lebensraumverschlechterung in der Agrarlandschaft nahm auch der Bestand des Stieglitz in den letzten zwölf Jahren um 43 Prozent ab.
Die Berichte, die für die EU-Kommission erstellt wurden, beschreiben erstmals im Detail den Zustand von Tieren, Pflanzen und ihren Lebensräumen, mit zum Teil gravierenden Resultaten. Zum Beispiel in der Vogelwelt: Hier schrumpft der Bestand jeder dritten Art – und das mit zunehmendem Tempo. So verschwanden in den vergangenen zwölf Jahren über die Hälfte aller Kiebitze und ein Drittel der Feldlerchen. In der intensiv bewirtschafteten Landschaft finden sie kaum mehr Nahrung und geeignete Brutplätze.
Zu den Originalberichten der Bundesregierung
Auch abseits der Vogelwelt zeichnet der Bericht ein dramatisches Bild: Rund 60 Prozent aller anderen durch das EU-Recht geschützten Tier- und Pflanzenarten haben große Probleme. Von den Lebensräumen sind sogar 70 Prozent in einem schlechten oder unzureichenden Zustand. Und der Trend ist weiter negativ: Wichtige Lebensräume wie artenreiche Wiesen werden in Maisäcker umgewandelt, alte Eichenwälder werden zu Holzplantagen und die letzten Sanddünen im Binnenland wuchern zu, weil ihnen die traditionelle Beweidung fehlt. „Die neuen Daten zeigen ganz klar, wie die Natur bei uns schleichend verarmt. Das muss ein Weckruf für die Politik sein“, so Tschimpke.
„Gewinner“: Gefährdete Arten, deren Zustand sich in den letzten Jahren verbessert hat
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Verbessert hat sich der Zustand beim Großen Brachvogel: Der Abwärtstrend konnte durch intensive Schutzmaßnahmen in den wenigen verbleibenden Brutgebieten gestoppt werden.
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Auch bei der Knäkente konnte der Abwärtstrend gestoppt werden – dank der Sicherung wichtiger Feuchtgebiete als EU-Vogelschutzgebiete.
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Durch den Schutz schilfreicher Feuchtgebiete als EU-Vogelschutzgebiete hat der Bestand des Purpurreihers in den letzten Jahren zugenommen.
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Aufgrund zahlreicher gezielter EU-Schutzprojekte für Rohrdommeln und Schilfgebiete ist auch dieser Bestand angestiegen.
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Dank intensiver Schutzbemühungen in den alpinen Brutgebieten wurde der Abwärtstrend beim Steinadler gestoppt.
Offenbar könnte das Ergebnis sogar noch schlechter sein. So zweifelt der NABU die in den Berichten recht positiv bewertete Situation der Buchenwälder an. „Bund und Länder scheinen beim Bericht großzügige Bewertungskriterien angewendet zu haben. Uns ist bekannt, dass viele Bundesländer auch eintönige und viel zu junge Wirtschaftsforste häufig als gesunde Wälder bezeichnen, obwohl in ihnen kaum Artenvielfalt vorhanden ist. Wir hoffen, dass die EU-Kommission hier Nachbesserungen einfordert“, so der NABU-Präsident.
Die Hauptgründe für die Misere sieht der NABU in schädlichen Agrarsubventionen, unzureichenden Schutzgebietsbestimmungen und den personell und finanziell immer schlechter ausgestatteten Naturschutzverwaltungen. „Obwohl wir in der EU das wahrscheinlich beste Naturschutzrecht der Welt haben, mangelt es schlicht am Willen der zuständigen Bundesländer, es auch umzusetzen“, kritisierte Tschimpke. Erst in der vergangenen Woche hatten NABU und BUND die Naturschutzpolitik der einzelnen Bundesländer analysiert und dabei gravierende Versäumnisse offengelegt.
Mehr über die Kurzanalyse zum Erhalt der Artenvielfalt
Der Bericht der Bundesregierung, der heute von Bundesumweltministerin Hendricks vorgestellt wurde, zeigt aber auch punktuelle Erfolge, nämlich genau dort wo der Naturschutz konsequent durchgesetzt und finanziert wird. Nutznießer sind etwa der Biber, die Wildkatze und einige Fischarten wie Barbe oder Steinbeißer. Sie konnten sich dank der EU-Vorgaben zur Ausweisung von Schutzgebieten, zur Regulierung der Jagd und zum Gewässerschutz erholen. Das gleiche gilt für einige Vogelarten: Das deutsche Wappentier, der Seeadler, aber auch Kranich, Wanderfalke und einige andere von der EU-Vogelschutzrichtlinie besonders geschützte Arten feiern derzeit spektakuläre Comebacks.
Angesichts der insgesamt aber dramatischen Lage fordert der NABU eine Naturschutzoffensive von den zuständigen Landesregierungen. „Vor allem die Natura-2000-Schutzgebiete müssen viel besser überwacht, betreut und finanziert werden. Andernfalls wird Deutschland sein international gegebenes Versprechen brechen, den Rückgang der biologischen Vielfalt bis 2020 zu stoppen und umzukehren. Nach den heute veröffentlichten Daten hat sich die Bundesrepublik jedenfalls weiter denn je von diesem Ziel entfernt“, so Tschimpke.
Fragen und Antworten zur „Lage der Natur“ in Deutschland
Worum handelt es sich bei den Berichten der Bundesregierung zur „Lage der Natur“?
Mit den beiden EU-Naturschutzrichtlinien (Vogelschutzrichtlinie und Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie) haben sich die Mitgliedstaaten verpflichtet, alle sechs Jahre eine nationale Bestandsaufnahme von Arten und Lebensraumtypen vorzulegen. Diese hat die Bundesregierung am 26. März in Berlin vorgestellt – der bislang genaueste und umfassendste Bericht zur Lage der Natur in Deutschland überhaupt.
Bis zum Frühjahr 2015 wird die Europäische Kommission einen EU-weiten Gemeinschaftsbericht erstellen und wenn nötig neue Initiativen zur besseren Umsetzung der Naturschutzrichtlinien einleiten.
Wie entwickeln sich die Vogelarten in Deutschland?
Der nationale Vogelschutzbericht zeigt, dass immer mehr Vogelarten im Abwärtstrend sind: In den letzten zwölf Jahren hat sich die Zahl der Vogelarten, deren Bestände abnehmen, weiter erhöht, auf nunmehr ein Drittel aller Arten. Ein weiteres Drittel hat zunehmende, und ein Drittel gleichbleibende Bestände. Außerdem beschleunigt sich der Artenschwund: Bei den Vögeln sind die Bestandstrends der letzten zwölf Jahre insgesamt deutlich schlechter als die der letzten 25 Jahre.
Beispiele für Verschlechterungen („Verlierer“): Kiebitz, Uferschnepfe, Bekassine, Rebhuhn, Turteltaube, Feldlerche, Wiesenpieper. Beispiele für Verbesserungen („Gewinner“): Seeadler, Wanderfalke, Schwarzstorch, Kranich, Grünspecht.
Welche Vogelarten haben besonders stark abgenommen - und warum?
Arten, deren Bestandsentwicklung in den letzten zwölf Jahren besonders negativ war, sind insbesondere Arten der Agrarlandschaft und des Feuchtgrünlands, aber auch Langstreckenzieher.
Welche Vogelarten profitieren in Deutschland von den EU-Naturschutzvorgaben?
Ein Dutzend bedrohte Vogelarten haben in den letzten zwölf Jahren die Trendwende geschafft beziehungsweise sich stabilisiert – vor allem wegen der Schutzvorgaben und Förderprogrammen der EU, sowie Anstrengungen von Naturschutzverbänden, engagierten Landwirten und Behörden. Dazu kommt eine ganze Reihe weiterer Rote-Liste-Vogelarten, die sich bereits seit längerem erholen.
Die EU-Vogelschutzrichtlinie hat sich offensichtlich bewährt: Die von ihr besonders geschützten Vogelarten (Anhang-1-Arten) weisen seit 25 Jahren eine bessere Entwicklung auf als alle anderen.
Wie geht es den anderen Tier- und Pflanzenarten?
Bei den in der FFH-Richtlinie für Deutschland gelisteten 195 Tier- und Pflanzenarten (Vögel ausgenommen) verzeichnet der Bericht 18 Verschlechterungen und 16 Verbesserung in den vergangenen sechs Jahren. Insgesamt sind 60 Prozent in einem schlechten oder unzureichenden Zustand.
Zwar konnte somit durch gezielte Schutzprogramme in der Bilanz fast eine Stabilisierung erreicht werden, von einer Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustands für alle in der Richtlinie genannten Arten, wie sie das EU-Recht verlangt, ist Deutschland bei den meisten Arten aber noch weit entfernt.
Beispiele für Verbesserungen („Gewinner“): Wildkatze, Biber, Kegelrobbe, Mauereidechse, Fische (Barbe, Bitterling, Steinbeißer). Beispiele für Verschlechterungen („Verlierer“): Grasfrosch, Wechselkröte, Smaragdlibelle, Breitflügelfledermaus.
Wie ist die Lage der Lebensräume?
Laut aktuellem Bericht zur Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie (FFH) ist die Lage bei den Lebensraumtypen (Habitaten) katastrophal. Hier entfernt sich Deutschland immer weiter von seinen politischen Zielen und rechtlichen Verpflichtungen: Bei keinem einzigen Habitat konnte seit 2007 eine Verbesserung erreicht werden. Bei 13 verschlimmerte sich die Lage sogar deutlich. Insgesamt sind jetzt 70 Prozent der Lebensraumtypen in einem schlechten oder unzureichenden Zustand.
Beispiele für Verschlechterungen: Mähwiesen im Flach- und Bergland (Grünland), Binnendünen, Eichen- und Kiefernwälder.
Wie weit ist Deutschland von seinen internationalen Zielen für die biologische Vielfalt entfernt?
Im Jahr 2010 haben sich die Staats- und Regierungschefs der EU dazu verpflichtet, den Rückgang von Tier- und Pflanzenarten sowie Lebensräumen bis 2020 zu stoppen. Außerdem wollen sie die Erholung der Artenvielfalt einleiten und dafür konkrete Zielmarken erreichen. Deutschland entfernt sich leider immer weiter von diesen Zielen, wie der aktuelle Bericht zeigt: Bis 2020 müsste Deutschland danach die Bestände von 75 Prozent aller Vogelarten in einen gesicherten (also nicht auf der Roten Liste oder deren Vorwarnstufe) oder zumindest verbesserten Zustand bringen. Derzeit sind es aber nur 50 Prozent und die Trends sind negativ.
Außerdem müsste die Hälfte aller anderen Arten und zwei Drittel der Lebensraumtypen in einen günstigen oder deutlich verbesserten Zustand gebracht werden. Derzeit steht Deutschland hier bei nur 25 Prozent (Arten, Trend stagnierend) und 28 Prozent (Lebensraumtypen, Trend negativ).
Warum zeigen die Berichte trotzdem, dass der Naturschutz wirkt?
Auch wenn es noch eine Minderheit ist: Die neuen Daten zeigen, dass sich eine zunehmende Zahl von ehemals besonders bedrohten Tierarten erholt oder zumindest stabilisiert dank gezielter Naturschutzmaßnahmen. Hier sind besonders die Vorgaben und Instrumente der EU zu nennen, von denen Deutschland profitiert: das Natura-2000-Schutzgebietsnetz, die Regulierung der Jagd durch die EU-Naturschutzrichtlinien und gezielte aus Brüssel mitfinanzierte Maßnahmen (LIFE-Projekte und Agrarumweltmaßnahmen). Wenn diese engagiert durch die deutschen Behörden, Landwirte, Naturschutzverbände und andere genutzt werden, zeigen sich Erfolge. Leider fehlt in den meisten zuständigen Bundesländern noch der politische Wille, den Naturschutz auch mit den nötigen Personal- und Finanzmitteln auszustatten. Mehr dazu in der Kurzanalyse zum Erhalt der Artenvielfalt
Was fordert der NABU?
Angesichts der dramatischen Lage der Artenvielfalt, aber auch einiger großartiger Naturschutzerfolge fordert der NABU vor allem von der EU und den Bundesländern eine Naturschutzoffensive: Die in den letzten Jahren ausgewiesenen Natura-2000-Gebiete müssen wesentlich besser geschützt, betreut und finanziert werden.
Hierfür müssen die Bundesländer dringend mehr Personal und Finanzierung bereitstellen - und die Schutzgebiete endlich rechtlich sichern, sonst droht eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof. Die EU sollte deutlich mehr Geld für ihr Naturschutzprogramm LIFE bereitstellen und die Mitgliedstaaten außerdem dazu zwingen, endlich ihre Naturschutzgebiete ernsthaft zu kontrollieren und Verstöße zu ahnden. Hierfür bedarf es einer EU-Richtlinie für Umweltinspektionen.