In diesen Zeiten schöpfen wir besonders viel Kraft in der Natur. Werden Sie NABU-Mitglied und helfen Sie mit, damit wir die Natur auch in Zukunft genießen können.
Jetzt NABU-Mitglied werden!Wutbürger in Wietze
Ganz Niedersachsen wird zur Hähnchenfabrik
„Wutbürger“ ist das Wort des Jahres 2010. Viele verbinden damit die Proteste gegen das Großprojekt Stuttgart 21, doch es gibt noch weitere Vorhaben die den Unmut der Bürger auf sich ziehen. Ein wichtiger Schauplatz ist Wietze, ein kleiner Ort mit 8.000 Einwohnern in der Lüneburger Heide. Dort soll 2011 die größte Hähnchenschlachtanlage Europas entstehen. 134 Millionen Hähnchen könnten dort im Jahr geschlachtet werden. Das sind 27.000 pro Stunde und über 2,5 Millionen Hähnchen pro Woche. Und das, obwohl bereits jetzt in Deutschland mehr Hähnchenfleisch produziert als gegessen wird.
Hähnchen-Highway A7
Um den immensen Hunger der Schlachtfabrik zu stillen, müssen Berichten zufolge allein im Umkreis von 100 Kilometern 400 neue Mastanlagen mit Stallplätzen für jeweils 40.000 Tiere gebaut werden. Die Tiere werden dann per LKW zum Schlachthof transportiert. 20 LKW-Ladungen werden pro Tag verarbeitet. Dass ein Großteil des Verkehrs vorrausichtlich über die Autobahn A7 laufen wird, hat der Schnellstraße bereits den Namen „Hähnchen-Highway“ eingebracht.
Der neue Schwerpunkt in der Geflügelmast und -verarbeitung sei ein idealer Wirtschaftsfaktor für die Region, der Arbeitsplätze schafft, so das Versprechen der lokalen Politiker. Deshalb soll das Bauprojekt auch mit 6,5 Millionen Euro vom Land subventioniert werden. Doch so viele neue Arbeitsplätze wird es gar nicht geben. Die Anlage ist voll technisiert, wie Franz-Josef Rothkötter, der Geschäftsführer der Celler Land Frischgeflügel GmbH und Betreiber der Anlage, betonte. Kein Wunder also, dass bei solch einem Vorhaben bei den Niedersachsen Widerstand aufkommt. 25 Bürgerinitiativen haben sich inzwischen allein rund um Wietze gegründet.
Produktion für den Supermarkt
Zwischen zwei und vier Euro kostet ein Kilo Hähnchenfleisch momentan im Supermarkt. Möglich machen diesen Spottpreis die Haltungszustände in deutschen Mastanlagen. Je Quadratmeter wachsen hier bis zu 22 Hühner heran. „Die Tiere sind einseitig auf Brustwachstum gezüchtet. Ihr Herz-Kreislauf-System ist dem nicht gewachsen, Skelett und Beine auch nicht. Gegen Ende der Mast haben diese Hühner ernste Probleme, zu stehen“, erklärt Eckehard Niemann, Sprecher der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft und einer der Koordinatoren des bundesweiten Bürgerinitiativen-Netzwerks „Bauernhöfe statt Agrarfabriken“. „Zudem leiden 70 Prozent unter schmerzhaften Fußballenentzündungen, die entstehen, weil die Vögel während der gesamten Mastdauer in ihrem eigenen Kot stehen. Bei 40.000 zusammen gewachsenen Tieren ist ja gar kein Platz mehr zum Nachstreuen.“ Niemann setzt sich für eine tiergerechtere Haltung in bäuerlichen Strukturen ein und kämpft gegen die Schlachtanlage in Wietze.
Der Kot führt nicht nur bei den Tieren in den Mastanlagen zu Erkrankungen, auch die Anwohner der Betriebe fürchten gesundheitliche Konsequenzen. Die Exkremente sollen zum Großteil in Biogasanlagen in der Region eingespeist werden. Was nicht vergoren werden kann, wird auf den Feldern ausgebracht. Krankheitskeime gelangen so in die Luft und in das Grundwasser. Die Feinstaubbelastung nimmt zu. Hinzu kommt eine enorme Geruchsbelastung für die Anwohner von Mastbetrieben.
Widerspruch vom NABU
Ein weiteres Problem ist die Wasserversorgung. Pro Huhn werden allein bei der Schlachtung acht Liter Trinkwasser verbraucht. Bei über 2,5 Millionen Schlachtungen pro Woche führt das zwangsläufig auf Dauer zu einer Absenkung des Grundwasserspiegels – mit allen daraus resultierenden Folgen für die Natur. „Die Abwasserentsorgung für die Schlachtanlage ist auch noch ungeklärt“, so Eckehard Niemann. Die Bürgerinitiative Wietze mit ihren bereits 1.000 Mitgliedern will nun an dieser Stelle versuchen, das Großprojekt zu verhindern. Auch der NABU Niedersachsen hofft, das Projekt noch stoppen zu können. Der Verband hat gegen die Genehmigung der Schlachtanlage Widerspruch eingelegt.
Einen Sieg können die Protestler schon verbuchen. Denn obwohl der Bau der Schlachtanlage bereits läuft, finden sich kaum Landwirte, die auf Hähnchenzucht umsatteln möchten. Auch die meisten Bauern sind gegen die agrarindustrielle Geflügel-Produktion. Bisher wurden erst 50 der benötigten 400 Mastställe gebaut. „Rothkötter hat angekündigt, die Schlachtanlage in Wietze auf jeden Fall im Frühjahr in Betrieb zu nehmen. Dafür will er die fehlenden Tiere aus dem Bereich seines bisherigen Schlachthofs Haren im Emsland holen“, berichtet Eckehard Niemann. Doch das bedeutet für ihn noch lange nicht, aufzugeben.
Baustopp für neue Mastanlagen
Seit vergangenem Herbst gilt im Kreis Emsland und demnächst wohl auch in den Landkreisen Vechta, Oldenburg und Hannover ein Baustopp für neue Mastanlagen. „Das ist ein Zeichen, das Hoffnung macht“, erklärt Niemann. „Wenn wir Glück haben, schaffen wir es, ein Bauverbot für Agrarfabriken ins Baurecht aufzunehmen.“ Immerhin ist angesichts des großen Widerstandes mittlerweile sogar die eng mit der Agrarindustrie vernetzte Spitze des Deutschen Bauernverbands (DBV) davon überzeugt, dass die Branche mehr auf die Bevölkerung zugehen muss. „Langfristig werden allseits akzeptierte Haltungsverfahren noch wichtiger“ prognostiziert DBV-Generalsekretär Dr. Helmut Born in der Zeitschrift „Deutsche Bauern Korrespondenz“. Auch DBV-Vize Franz-Josef Möllers räumt ein, dass „Tierschutzthemen und Forderungen der Gesellschaft an Tier- und Umweltstandards eine immer wichtigere Rolle spielen.“
Es bleibt also zu hoffen, dass tatsächlich ein Umdenken erfolgt, und Wörter wie „Qualzucht“ oder „Hähnchen-Highway“ 2011 kein Thema sind.
Julja Koch