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Von Mecklenburg bis zum Bodensee sind Gänsegeier unterwegs
Augen auf: Geier kreisen über Deutschland
Von Mecklenburg bis zum Bodensee sind Gänsegeier unterwegs
150 Jahre ist es her, dass in Deutschland zum letzten Mal frei lebende Gänsegeier brüteten. Tauchen heute Geier im Himmel über Deutschland auf, dann sind das meist Vögel, die einem Falkner oder einem Zoo davongeflogen sind. Auch als Ende Mai aus dem südhessischen Riedstadt ein großer Geier gemeldet wird, vermuten die NABU-Aktiven erst einmal einen Flüchtling. Bei seiner Entdeckung sitzt der Vogel "nach einer regnerischen Nacht reglos und nass im Schilf unter seinem Schlafbaum", wie Stefan Stübing erzählt. Ohne Gegenwehr lässt sich der Geier einfangen.
Schließlich nimmt die Staatliche Vogelschutzwarte den entkräfteten Geier in Obhut. "Er ist äußerst hungrig und hat schon fast ein ganzes Kaninchen verspeist. Ansonsten scheint er völlig gesund", kann Gerd Bauschmann am nächsten Tag berichten. Da der Vogel nicht beringt ist, bleibt seine Herkunft zunächst ungewiss - vielleicht bringt eine in Auftrag gegebene Genanalyse die Antwort. Sobald der Gänsegeier zu Kräften gekommen ist, soll er wieder freigelassen werden.
Die Nachricht über den hessischen Geierfunde macht gerade die Runde in der Vogelkundlergemeinde, da taucht schon der nächste Aasfresser auf und bald häufen sich die Geiermeldungen, so dass nun niemand mehr an "Gefangenschaftsflüchtlinge" glaubt: Am 28. Mai wird bei Oberndorf ein Gänsegeier beobachtet, der heftig von Krähen und Milanen angegriffen wurde. "Am 30. Mai Gänsegeier in Kirchzarten bei Freiburg gelandet", meldet Christof Trzebitzky im Forum des German Birdnet. Am 31. Mai wird ein Geier bei Mössingen gesichtet, am 1. und 2. Juni bei Albstadt-Pfeffingen - "jeweils in der Nähe von Schafen".
Bereits am 24. Mai zieht laut Klaus Schmidt in Thüringen ein großer Trupp von "vermutlich insgesamt 18 Gänsegeiern" von Bad Salzungen über Möhra nordöstlich nach Richtung Eisenach. Ist es der gleiche Trupp, der später sogar bis hoch nach Mecklenburg voran kommt? Eigentlich keine sehr geierfreundliche Region, denn für ihre Nahrungs-Suchflüge benötigen die Großvögel - bis zu 2,8 Meter Spannweite und 11 Kilo Gewicht - viel Aufwind und der entsteht am ehesten an Gebirgshängen.
"Aufgrund eines Anrufes eines Bauern aus Ruhetal im Landkreis Ludwigslust konnte ich am 28. Mai (...) auf einer Wiese zwei erwachsene Gänsegeier recht nah beobachten. Beide waren definitiv unberingt", berichtet der Ornithologe Helmut Eggers. "Die beiden Geier atzten an einem toten Ferkel. Nach Information eines Jägers waren bereits am 26. Mai sechs "derartige Vögel" im genannten Bereich." Sogar "rund 30 Gänsegeier" melden M. Clemens und zwei Mitbeobachter an Himmelfahrt (25. Mai) in der Nähe von Güstrow "auf und über einer Schafswiese". Die Geier sitzen zunächst "auf dem höchsten Hügel" und begeben sich dann "in zwei Gruppen in den Himmel".
Am 29. Mai wird der Trupp noch weiter im Osten am Galenbecker See (Kreis Mecklenburg-Strelitz) gesehen, danach verliert sich seine Spur. Einzelne Geier tauchen aber weiter auf, ob diese nun aus dem großen Trupp stammen oder solo eingeflogen sind, wird sich wohl nicht feststellen lassen: Am 4. Juni beobachtet Josef Taphorn im niedersächsischen Klein Brockdorf (Kreis Vechta) einen Gänsegeier, der von mehreren Mäusebussarden und Turmfalken begleitet wird, kurz darauf sichten Nationalpark-Ranger in der Eifel nahe der belgischen Grenze ebenfalls einen einzelnen Geier. Am 11. Juni sieht Heinz Georg Düllberg im Kreis Lüneburg einen einzelnen Gänsegeier, der "südlich von Erbstorf über das Waldgebiet Bilmer Strauch in Richtung Südost" fliegt. Wiederum ganz im Süden der Republik segeln am 15. Juni in Schopfheim "über dem Wiesental weiter über den Dinkelberg Richtung Schweiz vier Gänsegeier, beobachtet von Christof Trzebitzky und vielen Schwimmbadbesuchern".
Die bisher letzte Gänsegeier-Sichtung kommt aus Stadtlohn und datiert vom vergangenen Montag (19.). Eine Familie entdeckt den ungewöhnlichen Gast in ihrem Baum und verständigt daraufhin die Polizei und einen Vogelexperten. "Dem Vogel war der ganze Trubel offensichtlich egal und zu langweilig, so dass er einschlief", heißt es im Polizeibereicht. "Dies nutzte der Vogelexperte aus und konnte den Geier mit Hilfe eines Hubsteigers aus dem zehn Meter hohen Baum herausholen."
Gänsegeier sind reine Aasfresser, für die Jagd auf lebende Tiere sind sie nicht wendig genug. Im Mittelalter waren sie noch recht verbreitet und brüteten auch im Süden Deutschlands, selbst an Mittelrhein und Mosel. "Auf der Schwäbischen Alb folgten sie den großen Schafherden und erfüllten als natürliche Kadaverbeseitiger eine wichtige Aufgabe", erläutert NABU-Experte Dieter Haas. Als zur Seuchenbekämpfung Tierkadaver aber nicht mehr auf den Weiden liegen gelassen wurden, entzog dies den Geiern die Nahrungsgrundlage. Jagd- und Vergiftungsaktionen taten ihr übriges.
Heute besiedelt der Gänsegeier eine Zone von der Iberischen Halbinsel über den Balkan und die Türkei bis nach Arabien, den Iran, Nordindien und die Mongolei. Dank Schutz- und Fütterungsprogrammen haben sich seit 1980 die Gänsegeier vor allem in Spanien wieder deutlich vermehrt. Dort kommen heute rund 22.000 Brutpaare vor, weitere 400 in Portugal, knapp 200 in Griechenland, 300 bis 500 in der Türkei sowie etwa 200 in den Balkanstaaten. In Frankreich schließlich sind es in den Pyrenäen und den Cevennen aufgrund von erfolgreichen Auswilderungen immerhin gut 600 Brutpaare. In Österreich fliegen gelegentlich aus Kroatien kommende Gänsegeier zur Sommerfrische ein. Dass auch unsere diesjährigen Gäste von dort stammen, gilt aber als unwahrscheinlich; eher dürften sie von Westen gekommen sein, also wohl aus den Cevennen.
Dieter Haas ist sich sicher: "Wenn diese eindrucksvollen Segelflieger genügend Nahrung finden und heimliche Verfolgung unterbunden wird - vor allem das kriminelle Ausbringen von Giftködern! -, haben sie auch bei uns wieder eine Chance. Die Schwäbische Alb könnte durch die Gänsegeier ähnlich belebt und touristisch aufgewertet werden wie schon heute die Regionen des französischen Zentralmassivs." (elg)
Nachtrag: Obwohl die Masse der Geier inzwischen wieder abgeflogen sein dürfte, lohnt es sich weiterhin, die Augen offen zu halten. Noch am Freitag (23. Juni) wurde in Niedersachsen im Kreis Lüneburg ein "adulter Gänsegeier gesichtet", wie Heinz Georg Düllberg im German Birdnet berichtet: "Er flog überwiegend im Ruderflug, durch kurze Gleitphasen unterbrochen, über die Ortschaft Echem hinweg nach Westen in Richtung Elbe-Seitenkanal."
Beitrag erstellt am 22. Juni 2006, ergänzt am 26. Juni.