Kümmern wir uns gemeinsam darum, die faszinierende Vielfalt in unseren letzten lebendigen Wäldern zu bewahren.
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Naturwaldreservate als Keimzellen des Waldnaturschutzes
Im sogenannten Wirtschaftswald sind unwegsames Dickicht, vergreiste Bäume und morsches Totholz unerwünscht. Keine Spur also von ungezähmter Natur? Nicht ganz: Auf knapp drei Promille der deutschen Waldfläche wachsen Wälder, die der menschlichen Nutzung entzogen sind. Naturwaldreservate oder Naturwaldzellen nennt man solche Schutzgebiete, wo Wald sich aus sich selbst heraus entwickeln und der „Urwald von morgen“ entstehen soll.
„In ganz Mitteleuropa gibt es keine Wälder mehr, die nicht vom Menschen geprägt sind“, sagt Wolfgang Dorow, der am Forschungsinstitut Senckenberg das Langzeitprojekt „Hessische Naturwaldreservate“ koordiniert. Von Beginn an hat der Mensch den Wald systematisch dezimiert, um Platz zu schaffen für Siedlungen, Ackerflächen, Straßen und Industrieanlagen. Die Bäume wurden gefällt, um Häuser zu bauen, Holzkohle herzustellen oder Eisenerze zu verhütten.
Frühe Verdrängung
Schon vor 800 Jahren hatte der Mensch den Wald auf zwei Dritteln der Fläche verdrängt und den Rest nach seinen Bedürfnissen geformt. Großflächige Rodungen wurden mit schnellwüchsigen Nadelbäumen aufgeforstet; oftmals pflanzte man Arten, die zwar gut zu vermarkten, jedoch nicht standortgerecht waren. So entwickelten sich Wälder, die die Natur nie hätte wachsen lassen – es entstand der deutsche Wirtschaftswald: aufgeräumt, sauber, fantasielos.
Erst in den 1970er Jahren begann man Gebiete auszuweisen, in denen der Wald sich selbst überlassen bleibt. Rund 700 solcher Naturwaldreservate gibt es bislang bundesweit; zusammen bedecken sie eine Fläche von rund 31.000 Hektar. Die Bundesregierung will den Naturwald-Anteil bis 2020 auf fünf Prozent der gesamten Waldfläche steigern. Das wären dann gut 550.00 Hektar „Urwald“ – ein ambitioniertes Ziel. Denn noch immer hat der Mensch wenig Vertrauen in die natürlichen Prozesse der Waldbewirtschaftung; er lässt dem Wald nicht einmal die Freiheit, sich aus eigener Kraft zu verjüngen, weil er glaubt, es schneller und zuverlässiger zu können.
Dass es gehen kann, zeigt die seit zehn Jahren laufende NABU-Aktion Naturwaldgemeinden. Dabei sind zum Beispiel in Baden-Württemberg die Kommunen Hirschberg, Bad Dürrheim, Königsfeld und Pfullingen die Verpflichtung eingegangen, nach NABU-Kritierien chemie-, mineraldünger- und kahlschlagfrei zu wirtschaften – und eben fünf Prozent unbewirtschaftet zu lassen.
Arche für bedrohte Arten
Naturwaldreservate liegen im Idealfall inmitten größerer Waldflächen und sind umgeben von einer Pufferzone aus anderweitig geschütztem Wald oder naturnah bewirtschaftetem Kulturwald. Zugänglich sind diese Urwaldkerne nur über wenige Fußpfade, die der Besucher nicht verlassen darf. Auch das Sammeln von Beeren und Pilzen ist verboten. Für Wissenschaftler sind die Reservate deshalb wie riesige Freilandlaboratorien, die es erlauben, ungestört die Wandlung von Nutzwald in Urwald zu erforschen. Wolfgang Dorow ist davon überzeugt, dass sich die Erkenntnisse des Langzeit-Experiments auch im Wirtschaftswald nutzbringend verwerten lassen. Nur wer das gesamte Potenzial des Waldes kenne, könne ihn effektiv und nachhaltig bewirtschaften, glaubt er.
Kulturwald verwildert schleichend: Als erstes wird der aufmerksame Beobachter merken, dass vermehrt dürre Äste und abgestorbene Kronenreste herumliegen. Dann beginnen einzelne Bäume zu kränkeln, verlieren ihre Blätter und werden von Pilzen befallen, die die Borke aufbrechen und anfangen, das Holz zu zersetzen. Eines Tages fällt der morsche Baum in sich zusammen. Auf dem toten Holz gedeihen nun Flechten und Moose, im Holz nisten Bienen und Wespen, Käfer und Regenwürmer zersetzen das Holz weiter bis nurmehr Humus übrig bleibt, aus dem die nächste Pflanzengeneration erwächst. Aus Wirtschaftswald, der meist aus etwa gleichaltrigen Bäumen besteht, entwickelt sich auf diese Weise nach und nach ein Wald, der alle Lebensphasen seiner Bäume repräsentiert – inklusive der unrentablen Phase des Alterns und Absterbens.
Winzige Inselchen
Alternde und absterbende Bäume sind ein entscheidender Faktor für Artenvielfalt: Experten schätzen beispielsweise die Zahl der Käferarten, die ganz oder zeitweise im Totholz leben, auf rund 1.400. Wolfgang Dorow und seine Kollegen wiesen in den hessischen Naturwaldreservaten rund 6.000 verschiedene Tierarten nach – das sind 15 Prozent aller einheimischen landlebenden Arten. Für bedrohte Pflanzen und Tiere sind Naturwaldreservate sogar zur Arche Noah geworden. Die Schutzgebiete seien Trittsteine, mit deren Hilfe sich gefährdete Arten auch im Wirtschaftswald wieder ausbreiten könnten, erläutert Dorow: „Auf lange Sicht stabilisiert sich dadurch das gesamte Ökosystem.“
Kritiker bemängeln jedoch, mit einer durchschnittlichen Größe von 40 bis 50 Hektar seien die bestehenden Naturwaldreservate zu klein, um nachhaltige Wirkung zu entfalten. Als Mindestgröße für einen funktionstüchtigen Naturwald gelten heute 100 Hektar Fläche – ein Kriterium, das nur 60 der 700 Schutzgebiete erfüllen. Hinzu kommt, dass die Urwaldparzellen wie isolierte, weit voneinander entfernte Inselchen im Meer des Wirtschaftswaldes liegen. Die Isolierung unterbindet den genetischen Austausch zwischen Populationen verschiedener Naturwaldreservate und es ist fraglich, ob bedrohte Tier- und Pflanzenarten auf diese Weise dauerhaft gerettet werden können.
von Hartmut Netz