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Der volle Überblick
Pralles Vogelleben auf der Halbinsel Graswarder
Neugierig erklimmt der Besucher am Ende seiner Führung durch das Naturschutzgebiet Graswarder das hölzerne Treppenhaus des neuen Aussichtsturms. Aus nächster Nähe begutachtet er gleichwohl skeptisch das kühne Konstrukt des international renommierten Architekten Meinhard von Gerkan. Ob er wohl hält, der Lärchenholzturm mit seiner gefährlich überhängenden Aussichtskanzel? Denn vergebens sucht man nach massiver metallischer Verstrebung. Ein Statik-Wunder aus massivem Holz.
„Der Turm bietet uns ganz unterschiedliche Optionen“, erklärt Klaus Dürkop, langjähriger Schutzgebietsreferent und Initiator des neuesten Projektes auf dem Jahrhunderte alten Nehrungshaken. „Wir haben jetzt im wahrsten Sinne des Wortes den vollen Überblick.“ Über die Gebietsentwicklung ebenso wie über Beeinträchtigungen durch Surfer, Kiter und Fischer oder Bedrohung durch Marder und Füchse.
Exklusives Konzept
Dort oben, 14 Meter über Normalnull, verschlägt es dem Besucher beim Panorama-Blick den Atem. Im Norden, keine acht Kilometer entfernt, wie hingetupft ins lichtblaue Meer, die Ostseeinsel Fehmarn. Im Süden das beschauliche Heiligenhafen mit Altstadt und Marina. Westlich das kleine NABU-Infozentrum und, wie an einer Perlenschur aufgezogen, die reetgedeckten ehemaligen Kapitänshäuser – heute vornehmlich private Feriendomizile betuchter Großstädter. Auch Architekt Gerkan ist urlaubender Anwohner. Ihm ging es um die Ästhetik vor seiner Haustür. „Sein exklusives Konzept wurde allerdings etwas teurer als geplant“, schmunzelt Dürkop, der den wechselhaften Planungsprozess des Turms bis zur endgültigen Einweihung im April 2005 begleitete. „Allerdings war Professor Gerkan so großzügig, die nicht unerheblichen Mehrkosten teilweise aus eigener Tasche zu bezahlen.“
Östlich des Turms erstreckt sich der Hauptteil des ständig wachsenden Nehrungshakens mit seinen Landzungen und Lagunen. Dürkop, NABU-Präsident von 1988 bis 1992, gibt Einblick in die Entwicklungsgeschichte: „An der Ostseeküste von Heiligenhafen formt die Natur bereits seit 1500 Jahren eine besondere Strandwalllandschaft. Material von der dem Ferienort westlich vorgelagerten Steilküste wird ebenso abgetragen wie die vom Seegrund gelösten Stein- und Geröllmassen.“ Diese werden auf dem Graswarder durch küstenparallele Strömungen angelandet und zu Wällen aus Kies und Steinen aufgetürmt. „So wuchs der Haken um zehn Hektar seit Mitte der 1950er Jahre.“
Im Umfeld der Strandhaken entstanden Salzwiesen, die sich im Laufe der Jahre - nicht zuletzt dank gezielten Biotopmanagements – zu einer üppigen Naturlandschaft mit enormer Pflanzenvielfalt entwickelten. Die nährstoffreichen und trockenen Böden der teilweise mannshohen Kleindünen werden fächerförmig von Strandhafer besiedelt. Im rückwärtigen Bereich der Düne schließen sich unter anderem Bestände des Dünenstiefmütterchens, Grasnelke, Pfefferkresse oder Mauerpfeffer an. Auf den salzigen Wiesen gedeihen Strandflieder, Strandbeifuß und Echter Wermut.
Diese Vielfalt interessiert auch die Wissenschaft. Professoren selbst weiter entfernter Universitäten nutzen den Graswarder bevorzugt für Exkursionen. „Dabei könnte unser Angebot auch Köche begeistern“, freut sich Dürkop "Der Gourmet findet unter anderem den seltenen, sehr geschmacksintensiven echten Sellerie oder Queller, den die Franzosen gern als Salatbeilage genießen.“
Brutgebiet an der Vogelfluglinie
Ideale Bedingungen auf dem Graswarder und dessen geografische Lage auf der Vogelfluglinie locken zudem diverse Brut- und Rastvogelarten. Mehrere Hundert Sturmmöwen bilden eine der größten Brutkolonien im Ostseeraum. Tausende Graugänse steuern das beschauliche Naturschutzgebiet während der Hauptzugzeit an. Nicht nur vom Turm lassen sich Silbermöwen, Mittelsäger, Eiderenten und vom Aussterben bedrohte Limikolen wie Rotschenkel oder die seltene Küstenseeschwalbe beobachten. Direkt vor dem Infozentrum balzen auf den grünen Salzwiesen farbenprächtige Brandgänse und seit vielen Jahren zieht eine Graugans auf einer vor Hochwasser geschützten Plattform vor den begeisterten Augen der Besucher ihre Küken groß.
„Die Nehrung wurde 1965 zum Naturschutzgebiet erklärt. Da es damals noch keine Infozentren in Schutzgebieten gab, hatte der Graswarder innerhalb des NABU Pilotfunktion.“ Dürkops Konzept, Umweltbildung mit Gebietsbetreuung kostenneutral zu verzahnen, geht bis heute auf. Der Mix aus Eintrittsgeldern, Spenden und Landeszuschüssen bei durchgehend ehrenamtlicher Betreuung von Ostern bis Oktober funktioniert nun seit über vier Jahrzehnten.
Als Füchse, Iltisse und Steinmarder vor zehn Jahren die Bestände von Küstenseeschwalben oder Säbelschnäblern massiv zu bedrohen begannen, setzte Dürkop auch beim Seevogelschutz für Schleswig-Holstein neue Maßstäbe. „Die Störenfriede werden seither konsequent bejagt oder durch Elektrozäune von den sensiblen Vogelkolonien ferngehalten.“
Neues Wahrzeichen
Menschen Natur auch unkonventionell näher zu bringen, darum geht es dem engagierten Naturschützer. Deswegen sollte die eigenwillige Turmkonstruktion weithin gut sichtbar sein. Bereits nach kurzer Zeit mauserte sie sich - selbst gegen kritische Stimmen aus dem Ferienstädtchen - zu einer Art Wahrzeichen. Und das zieht längst nicht mehr nur Naturschutzinteressierte an. Ein kluger Schachzug. Mehr Menschen erreichen und begeistern und das Gebiet auch gegen wachsende ökonomische Widrigkeiten erfolgreich führen. Ein Ziel, das mit dem Blick vom Turm noch klarer geworden ist.
Malte Siegert, aus „Naturschutz heute“, Ausgabe 4//06
Kontakt: NABU-Naturschutzgebiet Graswarder, 23774 Heiligenhafen, Tel. Infozentrum 0 43 62-69 47, www.graswarder.de.
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