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Erhalt und Förderung pflanzlicher Vielfalt an Mauern im Siedlungsbereich
Mit dem Begriff "Stadt" wird man normalerweise nicht die Vorstellung von üppiger Natur verbinden. Vielmehr werden Städte häufig als lebensfeindlich - und dies nicht nur für Tiere und Pflanzen - empfunden. Dass die vom Menschen geschaffene und vielfältig beeinflusste Stadt-Umwelt jedoch nicht notwendigerweise naturfern und artenarm sein muss, zeigen Klärteiche, Gleisanlagen, aufgelassene Kiesgruben, Dämme - und eben auch Mauern. Diese siedlungstypischen Biotope können im Gegenteil sogar artenreicher und damit ökologisch wichtiger sein, da das Mosaik kleinräumig wechselnder und vielfältiger Strukturen die Ansiedlung einer großen Artenvielfalt begünstigt und zudem - gegenüber intensiv genutzten Naturflächen - kaum mit Gülle, Insektiziden und anderem belastet werden.
Angesichts der rasanten Vernichtung natürlicher Lebensräume muss solchen Ersatzlebensräumen eine zunehmende Bedeutung beigemessen werden. Aus der Sicht des Naturschutzes sind Mauern als typische und charakteristische Strukturelemente von Siedlungsräumen dabei besonders interessant, da es oft überraschend vielfältige Kleinstrukturen sind, deren Erhalt und Förderung einen wichtigen Beitrag zu kommunalen Biotop- und Artenschutzmaßnahmen liefern können.
Felsen aus Menschenhand
Im Gegensatz zum geplanten Stadtgrün werden Mauern spontan besiedelt. Abhängig von Baumaterial, Alter, Art und Struktur des Bauwerks und Exposition folgen verschiedene Sukzessionsstadien, beginnend mit Algen, Flechten, Moosen, Farn- und Blütenpflanzen, aufeinander. Bei ungestörter Entwicklung kann sich so innerhalb von einigen Jahrzehnten ein teils recht umfangreicher, teppichartiger Mauerbewuchs einstellen, welcher nicht nur bezüglich der Artenzahl, sondern auch der genetischen Vielfalt innerhalb der Arten - durch Übertragung von Pollen aus benachbarten Populationen oder durch Ausbreitung und erfolgreiche Ansiedlung von Samen und Früchten - den an natürlichen Felsstandorten gefundenen Verhältnissen ausgesprochen nahe kommt.
Die Mehrzahl der an Mauern vorkommenden Pflanzen sind allgemein verbreitete und häufige Arten wie die Weiße Taubnessel und die Große Brennnessel. Dies gilt vor allem für leicht geneigte und unvermörtelte Stützmauern (zum Beispiel in Weinbergen), die aufgrund des anstehenden Bodens eine gute Nährstoff- und Wasserversorgung aufweisen. Sehr viel schwieriger sind die Lebensbedingungen - unter anderem hinsichtlich der Anzahl und Größe geeigneter Wuchsorte, des Nährstoffeintrags, des je nach Exposition mehr oder weniger angespannten Wasserhaushalts sowie des pH-Wertes des Fugensubstrats - an vermörtelten, senkrecht stehenden Mauern, die in vielerlei Beziehungen Felsbiotopen ähneln. So ist es nicht verwunderlich, dass Mauer-Spezialisten Pflanzen südeuropäischer Hochgebirge sowie Kulturfolger aus dem Mittelmeergebiet sind, die durch den Menschen als Zierpflanzen ihr angestammtes Verbreitungsgebiet stark vergrößern konnten. Die meist wärmebedürftigen Pflanzen kommen dabei allerdings nur in wintermilden Lagen vor, wo ihnen etwa die Klimagunst größerer Flusssysteme wie im Ober- und Mittelrheingebiet gute Wuchsbedingungen bietet.
Überlebensstrategien für Hitze und Trockenheit
Das am natürlichen Standort erworbene Strategie-Repertoire zur Bewältigung von Extremstandorten ermöglicht den ursprünglichen Felsbewohnern dabei auch die Besiedlung von Ersatzbiotopen mit ähnlichen Verhältnissen. So speichern Arten wie der Weiße Mauerpfeffer das dringend benötigte Wasser in ihren dickfleischigen Blättern. Andere, wie die Dach-Hauswurz, besiedeln die niederschlagsreichere Mauerkrone, wo sie mittels ihrer rosettig angeordneten zahlreichen und sehr dicht stehenden Blättern das Regenwasser halten und so den eigenen Wurzeln über längere Zeit verfügbar machen. Eine physiologische Anpassung an den Wassermangel des Mauerstandorts zeigt das Mauer-Zimbelkraut, das im Laufe der Vegetationsperiode eine zunehmende Trockenheitsresistenz zeigt, indem es höhere Wasserverluste zu tolerieren vermag.
In Anbetracht der mit großen Schwierigkeiten verbundenen (Neu-)Besiedlung von Mauerfugen verwundert es nicht, dass die Mehrzahl der Mauerarten ausdauernde Kräuter und Stauden sind. Offensichtlich ist es vorteilhaft, einen einmal eroberten Lebensraum mittels regelmäßiger Samenproduktion langfristig zu sichern bzw. zu erweitern. Bäumen und Sträuchern mit der gleichen Strategie bieten Mauern normalerweise zu wenig Raum, Wasser und Nährstoffe. Ganz anders ist hingegen die Strategie des Dreifinger-Steinbrechs, der nur sehr kurzlebig ist und nach der frühen Blüte die ungünstige Jahreszeit in Form seiner widerstandsfähigen Samen überdauert.
Verschiedene Ansprüche zeigen die Mauerarten auch hinsichtlich des bevorzugten Wuchsortes (so besiedeln die Mauerfarne etwa die sehr wenig nährstoffreichen oberen Bereiche der Mauerwand, während Pflanzen wie das Mauer-Glaskraut vor allem den gut nährstoffversorgten Mauerfuß bewachsen), des bevorzugten pH-Wertes etc.. Gleiches gilt für die Exposition. Während Arten wie der Gelbe Lerchensporn auf eher nord-nordwestliche Standorte beschränkt sind, hat das Mauer-Glaskraut eine diesbezüglich sehr viel breitere ökologische Amplitude, da es mit Ausnahme rein nordexponierter Mauerfugen sonst überall häufig vorkommt. Letztlich ist es nur die Fähigkeit, einen jeweils bestimmten Teil der beschränkten Ressourcen des Extrem-Standorts zu nutzen, die den Pflanzen die Möglichkeit zur Koexistenz in einer sehr angespannten inner- und außerartlichen Konkurrenzsituation eröffnet.
Naturinseln in der Stadt
Neben ihrem Pflanzeninventar können Mauern auch einer Vielzahl von Tieren eine Heimat geben. Beobachtungen von Eidechsen beim Aufwärmen an der Mauerwand, Netzbautechniken verschiedener Spinnen in den Mauerzwischenräumen, verschiedener Bienenarten bei der Nektar- oder Pollenaufnahme, Grabwespen beim Anlegen ihrer Nistplätze und vieles mehr können interessante Einblicke in das komplexe Gefüge der Mauerökologie geben und so nebenbei auch das Verständnis für vernetzte ökologische Systeme fördern helfen.
Hierbei ist jedoch nicht nur die Struktur-, Arten- und Interaktionsvielfalt von Mauerstandorten von Vorteil, sondern auch deren Vorhandensein in der direkten Lebensumwelt der Stadtmenschen. Der aus der räumlichen Nähe resultierende einfache Zugang ermöglicht die didaktische Vermittlung komplexer biologisch-ökologischer Inhalte vor der eigenen Haustür, und zwar unabhängig vom Alter der Zielgruppe, sei es als Bestandteil schulischer Bildungsmaßnahmen (Mauern im Schulgarten oder Exkursionen in den Lebensraum Stadt) oder im Rahmen der Erwachsenen(weiter)bildung (zum Beispiel stadtökologische Pfade).
Allerdings sind Mauern nicht nur wichtige Ersatzlebensräume im Siedlungsbereich. Friedhofs-, Brücken-, Burg- und Klostermauern prägen vielmehr seit Jahrhunderten das Erscheinungsbild der Kultur- und Siedlungslandschaft. Werden diese durch Sanierungsmaßnahmen oder Abriss beschädigt oder zerstört, verlieren sie nicht nur ihre Funktion als Sekundärbiotop, sondern auch ihren historisch-kulturellen Wert (etwa beim Ersatz der für den Weinanbau so typischen Mauern durch billigere und einfacher zu errichtende Alternativen). Auch beim Erhalt denkmalgeschützter Mauern sollte bedacht werden, dass nur die strukturelle Einheit von Mauer und Bewuchs ein Kultur- und Naturdenkmal darstellen kann; sandgestrahlte, wie Neubauten wirkende Bauwerke büßen nicht nur ihren jahrhundertealten Bewuchs, sondern auch ihren historischen Charakter ein.
Es gibt noch eine Vielzahl weiterer Aspekte, die für den Erhalt von Mauern und deren Vegetation sprechen: So hatten (oder haben noch) Mauerpflanzen auch eine lange Nutzungsgeschichte, zum Beispiel wurde aus den Wedeln des Braunstieligen Streifenfarns ein Tee-Ersatz bereitet. Zu Heilzwecken genutzt wurden ferner das aus dem Goldlack gewonnene Glykosid Cheiranthin und Extrakte aus der Dach-Hauswurz zur Behandlung von Hautwunden, Stichen oder Sonnenbrand. Letztgenannte Mauerpflanze spielt auch im Volksglauben eine wichtige Rolle, wobei die auf Dach und Haus gepflanzte, dem germanischen Gott Donar geweihte Art vor Blitzeinschlägen schützen sollte. Allerdings haben bewachsene Mauern auch nachprüfbarere Effekte: So wirkt ein dichter Mauerbewuchs nicht nur positiv auf die Psyche, sondern trägt durch seine isolierende Eigenschaft auch zur Energieeinsparung bei, sorgt für ein angenehmes Raum-Innenklima und absorbiert darüber hinaus Lärm und Staub.
Mehr Mut zum Mauerbewuchs
Auch wenn Maßnahmen zum Schutz von Mauern begrenzt sein können (unter anderem dadurch, dass in der Regel ja die primäre Funktion der Mauer beibehalten werden soll), sollte in jedem Fall zunächst sorgfältig, also auch unter Miteinbeziehung kundiger Biologen, geprüft werden, ob ein Erhalt des Mauerstandorts möglich ist. Dies wäre meist sehr einfach zu erreichen - es fehlt oft nur der gute Wille. Leider wird aber häufig allzu schnell das über lange Zeiträume an Mauern gewachsene Beziehungsgefüge unterschiedlicher Organismen zerstört.
Verzichten sollte man auf jeden Fall auf durch übertriebene Ordnungsliebe motivierte Säuberungsaktionen, die Verwendung kaum verwitterbaren Betonmörtels sowie den Einsatz von Herbiziden oder Sandstrahlgeräten. Mit sach- und fachkundig ausgeführten Extensiv-Pflegemaßnahmen kann sehr leicht dafür gesorgt werden, dass Gehölze nicht in Mauerfugen einwurzeln und so langfristig zu einer Schädigung des Bauwerks führen können (dies liegt im übrigen sowohl im Interesse des Besitzers wie auch des Naturschützers) oder die typische Mauerflora beschatten und damit langfristig verdrängen.
Auch gern gehegte Vorurteile wie der Eintrag von Feuchtigkeit in das Bauwerk können leicht entkräftet werden, da feuchtigkeitsliebende Pflanzen nur solche Mauerteile besiedeln können, die bereits feucht sind. Der Mauerbewuchs sorgt im Gegenteil durch die Entnahme von Wasser aus dem Boden unter der Mauer bzw. aus der Mauer selbst für trockene Mauerwände.
Anschrift des Autors: Thomas Junghans, Hermann-Löns-Weg 48, 69245 Bammental, thjunghans@aol.com
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